Donnerstag, 18. Oktober 2018

Haben die ein anderes Spiel gesehen als ich?

Oder: Es ist absurd, wie viel Kredit ein Jogi Löw immer noch hat.

Es ist halt immer eine Frage, worauf man achtet. Und ja, ich fand es schon faszinierend, wie positiv ein Thomas Hitzlsperger direkt nach Abpfiff das Geschehen auf dem Platz bewertete. Und die kritische Nachfrage, ob man die Veränderungen nicht schon vor 3 Monaten hätte bringen müssen, komplett ignorierte. Stattdessen sprechen alle trotz des drohenden Abstieges von einem Schritt in die Richtige Richtung. Und vor allem von einen Super Spiel, welches die Deutschen gemacht haben.

Da frage ich mich ehrlich: Haben die ein anderes Spiel gesehen als ich? War das Spiel gegen die Niederlande (wie auch der WM Auftritt) so schlecht, dass man sich jetzt an den einfachen Grundlagen aufgeilen kann? Das war ja schon im Hinspiel so, als alle stolz erwähnt haben, dass man ja defensiv super gestanden hat... in einem Heimspiel... Als Deutschland. Jetzt kommt ein "In Frankreich kann man ja mal verlieren." Der Adi würde sich im Grab umdrehen, wenn er nicht verbrannt worden wäre...

Und natürlich kann man mal in Frankreich oder beim Weltmeister verlieren. Aber diese Niederlage sollte man nicht als "Fortschritt" feiern. Und vor allem dass man das am Gegner festmacht. Weil der ja vorher so erfolgreich war... Seit wann ist unsere Nationalmannschaft so schlecht, dass wir die Beurteilungen von Ergebnissen am Gegner festmachen? Sind wir wirklich so tief gesunken?

Wäre dann auf ein Mal selbst Gibraltar Favorit? Klingt absurd... aber Gibraltar hat seine letzten beiden Pflichtspiele gewonnen, während Deutschland seit 4 Pflichtspielen sieglos ist. Und im Kalenderjahr 2018 mehr Pflichtspiele verloren hat als Gibraltar. Und ja, das ist die Realität, in der wir leben. Trotzdem wird der Trainer, der das zu verantworten hat, mit Samthandschuhen angefasst.

Genau genommen hatte Jogi Löw nach der WM eine Aufgabe: Ein Offensivsystem für das (vielleicht zu ähnlich veranlagte) Offensivtrio Leroy Sane, Marco Reus und Timo Werner zu finden. Denn das dürften die 3 besten Offensivspieler dieses Landes sein. Und jetzt, nach 3 1/2 Monaten und einer heftigen Pleite gegen Holland, ist es Löw tatsächlich auch aufgefallen... und er ersetzt den verletzten Reus durch Serge Gnabry, beginnt tatsächlich damit, das System für die Zukunft zu entwickeln. Mit dem man (und Löw redet ja gerne von 2 Jahres Zyklen) bei der EM 2020 antreten kann.

Warum er das nicht schon im Hinspiel versucht hat. Oder in Amsterdam... aber da musste jeweils doch wieder Thomas Müller starten. Der irgendwie von der kritischen Analyse ausgenommen war, obwohl er still und heimlich sein letztes gutes Länderspiel vor 4 Jahren absolviert hat. Und ja, ich war echt überrascht, dass Kicker.de die Generalabrechnung von Christophe Dugarry zwischenzeitlich ganz oben auf seiner Homepage hatte. Aber macht euch keine Sorgen, mittlerweile muss man nach solchen Meinungen wieder suchen. Die werden wieder gut versteckt. Und jegliches "Das kommt eigentlich zu spät!" wird bei den eigenen Kommentaren ebenfalls ausgeblendet. Stattdessen freuen sich alle, dass Löw jetzt endlich das macht, was er eigentlich schon längst hätte machen müssen.

Genau genommen gibt es nach diesem Spiel nur eine Frage, die gestellt werden muss. Warum hat das so lange gedauert?

Dabei geht es noch nicht mal um den Abstieg in der irrelevanten Nations League. Da hieß es nach dem Hollandspiel schließlich noch: Den könnte man verkraften, wenn man dabei wenigstens auf junges Personal setzt. Es geht genau genommen darum, dass Jogi Löw den Sané komplett blockiert hat.
Also anders ist sein bemühter, aber an viel zu vielen Stellen, glückloser Auftritt nicht zu erklären: Sané denkt auf dem Platz mehr nach, als er eigentlich muss. Deswegen legt er auf ein Mal einen Ball quer, den er selber abschließen muss. Und das könnte durchaus auch daran liegen, dass er keine Ahnung hat, wie er Löw jetzt zufrieden stellen kann.

Und es gab erstaunlich viele Sané Situationen, in denen ich dachte "Jetzt handelt der nicht instinktiv, sondern denkt halt nach..." Aber dass das an Löw liegen könnte...
Mich erinnert das spontan an die Personalie Mario Götze bei der Weltmeisterschaft 2014: Der wurde als eigentlich 2. Bester Offensivspieler im letzten Gruppenspiel für einen gewissen Lukas Podolski aus der Mannschaft genommen und spielte danach dann im Achtelfinale gegen Algerien ohne jegliches Selbstvertrauen. Aber wo soll das Selbstvertrauen auch herkommen, wenn man keine Ahnung hat, wie man seinen Vorgesetzten zufrieden stellen kann?
Und ja, wenn du als bester Feldspieler des Ghana Spieles beim nächsten Mal 76 Minuten lang auf der Bank sitzt, beschäftigt dich das als Spieler. Genau so wie es dich als Sané beschäftigt, wenn du nicht an einem Spieler vorbeikommst, obwohl du eigentlich glaubst besser zu sein als dieser. Und mit diesem Glauben nicht mal alleine dastehst, aber dein direkter Vorgesetzter das halt anders sieht...

Also nur mal so als Gedankenexperiment: Stellen wir uns vor ein menschlich unbeliebterer Trainer, nennen wir ihn Thomas Tuchel hätte solche Probleme einen Sané ins Team zu integrieren. Dann würde die ganze Zeit darauf hingewiesen werden, dass ein Trainer einem solchen Ausnahmetalent das Vertrauen geben muss. Stellt euch mal vor, was sich ein Tuchel alles anhören müsste, wenn so ein Spieler unter ihm immer wieder solch dürftige Leistungen abliefert...
Man kann sich einfach nur mal das Verhältnis von Louis van Gaal und Franck Ribery angucken. Damals hieß es auch nie "Ribery muss sich an die Taktik des nachgewiesenen Erfolgstrainers anpassen". Sondern da ging es dann nur darum, wie schwierig van Gaal ist... Obwohl faktisch gesehen beide Charaktere eher schwierig sind.

Genau so ist es jetzt bei Sané und Löw. Nur dass da bisher die Schuld immer und ausschließlich beim Spieler gesucht worden ist. Aber genau genommen ist es auch für den Trainer eine Armutszeugnis, dass die Länderspielbilanz dieses Ausnahmetalents so grausam aussieht. Und wir reden hier vom besten Nachwuchsspieler der Premiere League. Es ist also nicht so, dass ich behaupte, dass der Junge gut ist (dafür sehe ich zu wenig Premiere League), sondern dass die Wahlberechtigten vor Ort sagen, dass der verdammt gut ist.
Und als Nationaltrainer ist es halt deine Aufgabe solche Leute in deine Mannschaft einzubauen.


Der nächste Punkt, der mich ja grundlegend stört, ist ja dieses "Wir haben ein gutes Spiel gemacht.", was dieses Mal wirklich alle angestimmt haben, außer Mats Hummels... Haben "wir" das?
Also genau genommen ging man durch einen fragwürdigen Handelfmeter in Führung. Und da ist es mir auch egal, ob der Kicker online schreibt, dass der "regelkonform" war. Wenn so ein Elfmeter gegen Deutschland gepfiffen wird, werden dieselben Regeln anders interpretiert. Und ja, man kann den geben, man muss aber nicht. Das ist halt die ewige Diskussion mit dem Handspiel, bei der ja immer darauf hingewiesen wird, dass niemand genau weiß, was ein Handspiel ist und was nicht... es sei denn es geht um Deutschland, dann ist es klar definiert.
Abgesehen von dem Elfmeter hatte man 2 wirklich gute "Das muss ein Tor sein" Chancen: Ein mal hält Hugo Lloris gegen Matthias Ginter stark. Und dann die oben schon beschriebene "Sané zaudert zu sehr und trifft mal wieder die falsche Entscheidung" Szene.
Und an sonsten hat Frankreich einen halt spielen lassen. Wie Frankreich das halt macht. Also selbst Dänemark, Peru und Australien haben sie phasenweise spielen lassen. Das ist quasi deren Konzept.
Jetzt wird hinterher so getan, als hätte man zahlreiche Großchancen zum 0:2 gehabt. Aber hätte Lloris dann nicht eine bessere Note als eine 2,5 kriegen müssen? Irgendwer müsste diese Großchancen ja vereitelt haben...
Und ja, Deutschland war in der ersten Halbzeit besser. Aber an der Stelle kommen wir zum ganz großen Problem: Als Frankreich dann beschloss mal ne Weile am Spiel teilzunehmen, kam von Deutschland Offensiv nichts mehr. Die letzte gezählte Torchance kam aus der 55. Minute. In der 2. Halbzeit lassen sich die Offensivbemühungen mit einem "Sie haben sich bemüht" zusammenfassen. Und das ist halt nicht gut genug. Zumindest wenn man die Klasse halten will.

Deswegen ist es praktisch gesehen auch völlig unerheblich, ob man wegen eines unberechtigten Elfmeters verloren hat. Denn in der Nations League Tabelle würde einem ein 1:1 auch nicht wirklich weiter helfen. Und ab der 60. Minute, also dem Moment des Ausgleichs, war Deutschland nie wieder auch nur annähernd in der Position ein Tor zu erzielen. Also nicht mal einen Lucky Punch, der Fußballspiele komplett auf den Kopf stellt, zu landen. Da kam nichts mehr.
Und das, obwohl man für die Tabelle das Spiel eigentlich gewinnen musste. Stattdessen schlendert Leroy Sané bei seiner Auswechslung ganz entspannt in Richtung Seitenlinie.
Ernsthaft, mein Highlight des Spiels war, wie Gerd Gottlob versuchte Kylian Mbappé anzutreiben... Mit einem "Der soll sich jetzt bitte nicht so viel Zeit lassen wie Sané..." Ähm... im Gegensatz zu Sané war Mbappé in der Position sich das zu leisten...

Wenn Deutschland, sich der Tabellensituation bewusst seiend, nach dem 1:1 engagiert nach vorne gespielt hätte. Stattdessen war die Luft komplett raus... und man ging in die Schlussphase mit einem "hey, vielleicht reicht es ja für ein Unentschieden"... Großartige Leistung!
Und ja, 55 Minuten lang haben wir das gute Spiel der Deutschen, dass alle gesehen haben wollen, auch bekommen. Aber ein Spiel dauert minimal länger als 55 Minuten.

Aber was will man erwarten, wenn der Trainer hinterher unwidersprochen bekannt gibt, dass man ja den Klassenerhalt noch aus eigener Kraft schaffen kann. Ähm... kann mal jemand den Löw mit einen Grundkurs in Mathematik ausrüsten? Also nur so zum Nachrechnen: Wenn die Niederlande gegen Frankreich gewinnt, kann selbst ein Einmarschbefehl mit Schliefenplan den Abstieg nicht mehr verhindern. "Aus eigener Kraft" bedeutet eigentlich, dass man nicht von den Ergebnissen der Konkurrenz abhängig ist.

Um mal einen Satz für die Aluhut Freunde rauszuhauen: Wir erreichen jetzt den Punkt in der Nations League, wo sich die Nationen, die eigentlich um den EM Titel spielen wollen (also Frankreich halt) fragen könnten, wie sie eigentlich der Endrunde aus dem Weg gehen können... um sich die Zusatzbelastung zu ersparen... also die Spanier haben das ja in ihrem Heimspiel gegen England sehr gut vor gemacht...
Natürlich wird das hinterher keiner zugeben, aber von den ganz großen Nationen hat doch nur Italien so richtig Bock auf die Nations League Endrunde... weil die halt sonst nichts austragen dürfen und mal dringend ein Turnier brauchen. Alle anderen ist es doch egal, wer diese Liga gewinnt. Allein schon deswegen ist ein Sieg der Niederlande gegen Frankreich wahrscheinlicher als viele glauben wollen.
Man hat sich also ganz entspannt in die Position manövriert, dass man vorm Fernseher sitzend definitiv absteigen kann. Großartige Leistung.

Wenn man kritisch über Löw berichten wollen würde, könnte dabei rauskommen, dass Löw bei seiner tiefgreifenden und kritischen Analyse zu dem Schluss kam, dass Thomas Müller auch im Jahr 2018 noch wichtiger ist als ein Leroy Sané. Und wir wissen jetzt alle, das dies ein kritischer Trugschluss war. Damit hat Löw bei seiner eigenen Analyse genau so versagt, wie bei der Weltmeisterschaft im Sommer. Und dann muss als nächstes die Frage erlaubt sein, wie viele kritische Fehlschläge ein Löw sich noch leisten darf oder ob 2 nicht reichen um entlassen zu werden...

Aber stattdessen haben wir uns daran gewöhnt, dass Selbstverständliche und Offensichtliche zu feiern.

1 Kommentar:

  1. Amen!

    Aber sieh es mal so: Wenn Tuchel statt Löw die deutsche Nationalmannschaft trainieren würde hättest du vermutlich sehr viel weniger zu schreiben :P

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