Donnerstag, 20. Februar 2020

Passives Abseits vs Tradition, Teil 5: Ein Traditionsverein in der Identitätskrise?

So was soll ja vorkommen. Man entwickelt sich als Verein weiter und plötzlich fällt all das, was den Verein eigentlich ausmacht, weg. Und wenn wir uns mal die Tabelle angucken, passiert genau das jetzt gerade bei... Union Berlin.

Also ja, der 1.FC Union Berlin ist ein Traditionsverein. Sogar ein ganz klassischer, denn der Verein ist nicht, wie man denken könnte, durch die Neustrukturierung der Sportlandschaft in der DDR entstanden. Man spielt seit 1920 An der alten Försterei. Was mich irgendwie irritiert, wie kann denn die Försterei damals schon alt gewesen sein? Und wenn die damals schon alt war, was ist die denn jetzt?

Aber genau genommen macht gar nicht der Fakt, dass man von den Umstrukturierungsmaßnahmen weitgehend verschont blieb, Union besonders. Sondern das Jahr 1923. Denn damals holte man sich das letzte Mal die Berliner Stadtmeisterschaft und zog ins Finale um die Deutsche Meisterschaft ein. Also praktisch hießen die noch Union Oberschönenweide, aber das sind ja nun wirklich Details.

Das spannende ist: Die nächsten 100 Jahre waren Hertha BSC Berlin, Tennis Borussia Berlin, SC Tasmania Berlin (ja, selbst die) und Blau-Weiß 90 Berlin die Nummer eins in der Stakt. Oh und eine gewisse BSG Dynamo in Ostdeutschland.

Union hat quasi seine gesamte Geschichte als "Nummer 2 in der Stadt" verbracht. Oder man stand gerade noch schlechter da und war nicht mal das. Um das mal zu verdeutlichen: Auf der Wikipedia Seite werden "(Ost-)Berliner Meisterschaften" als Erfolg angegeben. Es gab 4 davon. Die wurden von Union II errungen. Das ist nen bisschen als würde Bayern München den 1. Platz in der Regionalliga Bayern und den damit verbundenen Aufstieg in die dritte Liga als historischen Erfolg feiern.

Aber mit diesem Status als "Nummer 2 in der Stadt" kam natürlich auch immer das Narrativ des Anti-Establishment-Clubs, in dem sich Union immer auch sehr wohl gefühlt hat. Diejenigen, die nichts mit der Bevorzugung durch die Stasi bei Dynamo zu tun haben wollten, gingen zu Union. Sie gingen bewusst zu Union. Und nach der Wende gingen dann die Leute, die sich von der Kommerzialisierung und dem Größenwahn der Hertha zur Jahrtausendwende abwenden wollten zu Union.
Das war ein Status, mit dem man sich als Verein sehr gut arrangieren konnte. Also die Vereinshymne kommt nur echt mit der "Wer lässt sich nicht vom Westen kaufen" Zeile.
Man konnte auf Grund der Hingabe und Treue der Fans einige eigentlich wahnsinnige Aktionen starten. Man hat still und heimlich fast so viele Mitglieder wie der große Klassenfeind. Aber man besetzt halt immer noch die Gegenposition. Zumindest im Narrativ.

Hier ist das faszinierende: Es gibt eigentlich nur einen Verein, der dies auch noch von sich behaupten kann. Und der halt auch als "Kultkiezklub" funktioniert. Offensichtlich ist es der 1.FC St.Pauli, der auch immer hinter dem Hamburger SV stand. Aber in allen anderen Städten und Metroplexen...

Als praktisches Beispiel sei hier mal 1860 München genannt. Die sind auch Kult, waren aber noch in den 60er Jahren vor den großen Bayern. Also auch wenn es knapp war: Es gibt ja Gründe dafür, warum 1860 Gründungsmitglied der Bundesliga ist und die Bayern es nicht sind. Und sie standen auch lange vor den Bayern in einem internationalen Finale.

Im Ruhrgebiet gab es halt regelmäßig wechselnde Verhältnisse. Heutzutage repräsentiert durch Dortmund und Schalke, aber früher halt auch mit Rot Weiß Essen. Aber eine Klare Nummer 1 und 2 gibt es nur in den Köpfen der einzelnen Vereine.

In Köln gibt es die Viktoria, die aber halt im Gegensatz zu Union und St.Pauli weit davon entfernt ist ein überregionales Phänomen zu sein. Man spielt halt vor 2.500 Zuschauern.
(Edit: Ich bin gerade darauf hingewiesen worden, dass wohl eher Fortuna Köln die emotionale Nummer 2  in Köln ist. Stimmt. Aber dass ich die beiden Vereine verwechselt habe, sagt wahrscheinlich alles über die Überregionale Reichweite dieser Verein aus.)
Selbiges lässt sich über den FSV Frankfurt sagen, die 8 Jahre lang in der 2. Liga spielten, aber auch immer Probleme hatten den Anschluss in der Stadt zu finden. Jetzt spielt man irgendwo in der Regionalliga.

Einzig St.Pauli und Union sind so richtige Erfolgsgeschichten als designierte Nummer 2 in der Stadt. Also gerade wenn man sich anguckt, wie sehr 1860 eingebrochen ist, seit dem die Bayern sie überholt haben. Die Stadt München wäre eigentlich groß genug für 2 Profiklubs. Zwischenzeitlich gab es mit Unterhachingen ja sogar 3 Bundesligisten in der Stadt. Und Unterhachingen sicherte zum Saisonfinale mit überraschenden Siegen die Meisterschaft für den "Lokalrivalen". Der Markt wäre da. Trotzdem hat man es in München bis heute nicht geschafft einen akzeptierten und erfolgreichen Verein im Schatten der Bayern zu etablieren, der konstant erfolgreich ist.

Bei Union ist genau dies gelungen. Und zwar durch konstanten und gesunden Wachstum. Denn im Windschatten des alternativen Kultklub Narratives hat sich ein seriös geführter und ständig wachsender Verein entwickelt. Es war ja am Ende auch genau genommen nicht mehr die Frage "Ob" sondern nur noch "Wann" Union aufsteigt. Man spielte seit 10 Jahren in der 2. Liga und das mit deutlich steigenden Leistungen. Also von einem einzelnen relativen Rückschritt unterbrochen war die Tabellenplatzentwicklung bei Union: 9., 7., 6., 4. von 2014-2017 und dann der Aufstieg als Dritter 2019. Wenn man jetzt in der Relegation gescheitert wäre, hätten sie deswegen trotzdem nicht den Weg vom Karlsruher SC eingeschlagen und wäre plötzlich verkatert in der dritten Liga wach geworden. Man wäre dann halt 2021 oder 22 aufgestiegen.

Jetzt ist man aber plötzlich an einem Wendepunkt. Denn in der aktuellen Tabelle steht Union vor der Hertha. Zum ersten Mal seit 1923. Behaupte ich jetzt mal. Und bei dem Chaos der Hertha ist es ja nicht ausgeschlossen, dass das bis zum Saisonende so bleibt. Dann wäre man plötzlich zumindest kurzfristig wieder die Nummer 1 in der Stadt... Zum ersten Mal seit fast 100 Jahren.

Nebenbei ist das ja das eigentlich interessante an der Berliner Gesamtkonstellation: Es gibt da halt gerade 2 Vereine, die auf dem Weg zum "Big City Club" sind. Aber nur einer gibt das unter Lars Windhorst offen und aggressiv als Ziel aus. Der andere entwickelt sich einfach still und stetig weiter und werden groß ohne groß darüber zu reden.
Und ja, meine Prognose zur Union war schon vor dem Saisonbeginn: Die werden vielleicht auch unterwegs mal absteigen, aber in spätestens 10 Jahren ein fest etabliertes Mitglied der Bundesliga sein.
Derweil steht es nirgendwo geschrieben, dass die Turbovariante, für die sich die Hertha gerade entschieden hat, zwingend funktionieren muss. Also es kann genau so enden, wie beim HSV mit Klaus-Michael Kühne.
Und selbst wenn das in Berlin wirklich funktioniert... bedeutet es nicht, dass Union in einer für sie gut laufenden Saison nicht plötzlich doch wieder vor der Hertha steht. Oder es wird einfach Jahre geben, in denen man beide Stadtderbys gewinnt und hinterher einfach behaupten wird, dass man ja offensichtlich die Nummer eins in der Stadt ist. Das wird einfach hin und wieder vorkommen. Und das wird für Union dann komisch.

Man sieht ja auch schon die ersten Anzeichen. Also so übertrieben das klingt, aber der familiäre Kiezverein hätte nie groß darüber nachgedacht, ob man mit Sebastian Polter verlängern sollte. Auch wenn das ein Marius Ebbers Angreifer ist, muss man den doch auf Grund seiner hohen Verdienst für den Verein behalten. Praktisch ist Polter schon zu Saisonbeginn zum Ergänzungsspieler degradiert worden und hat jetzt ein Vertragsangebot bekommen. welches er als Beleidigung auffasst. Wir haben praktisch also schon die erste "Vereinslegende" und den ersten "Aufstiegshelden", der mit dem Wachstum des Klubs nicht Schritt halten kann und deswegen aussortiert werden muss. Und der dann auch anscheinend recht humorlos aussortiert wird. Weil man als etablierter Bundesligist, der man werden will, halt solche kalten Entscheidungen treffen muss... Und genau da liegt die anstehende Identitätskrise der Unioner.

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