Donnerstag, 30. April 2020

Re-Worst of: Euro 96

Wie habe ich es gesehen? Das war quasi das erste richtige Turnier. Wo man vorher schon wusste, was eine Europameisterschaft ist und wer daran teilnimmt. Wo man seinen Urlaubsplan daran ausgerichtet hat und sich die K.O. Phase bei Oma angeguckt hat, anstatt ans Meer zu fahren. Und wo wir Omas spannende Frage, warum die Engländer in Sträflingskleidung antraten, nicht beantworten konnte. Ernsthaft, was haben die sich damals bei den Auswärtstrikots gedacht? Außer: Hoffentlich brauchen wir die nicht.
Aber ich habe mich sofort in die Engländer verliebt. Was mir halt jetzt gerade wieder bewusst wurde, weil meine Gesichtsmaske aus einem Englandschal besteht, den ich mir 97 oder 98 auf Sprachreise in England gekauft haben muss. So viel zur Theorie diese Beiträge Covid-19-frei zu halten...
Die Stimmung, die von den Stadien in die Wohnzimmer über schwappte, war etwas vollkommen neues.  Die Intensität, mit der die Mannschaft spielte... Paul Gascoigne war ein einzigartiger Offensiver Mittelfeldspieler, der sich über Einsatz und Kampf definierte, aber trotzdem geniale Momente hatte. Dies wurde nie so deutlich, wie in diesem Turnier. Außerdem stand er für eine "Wenn ich mit einem Pass 2 Mann ausnehmen kann, mit einem Dribbling nur einen, spiele ich den Ball ab" Philosophie... was für mein 11 Jähriges Gehirn ein absoluter Mindfuck war... Denn alle Leute, die ich kannte, spielten meistens anders... Also alle außer meinem Vater, der darauf angesprochen sagte "Wie sollte man sonst spielen"... oder so was ähnliches...
Aber die Szene, in der Gascoigne in der Verlängerung ins Tor rutschte, den Ball aber verpasste, brannte sich genau so in mein Gedächtnis, wie der Pfostenschuss von Danny Anderton... dass Deutschland in der Verlängerung ein an sich legales 2:1 erzielte, habe ich aber verdrängt. Selbst ein gutes Gedächtnis funktioniert halt sehr selektiv... Aber dieses Halbfinale dürfte mein erste Klassiker gewesen sein.
An sonsten fiel mir beim Rewatching aller Tore auf, dass diese EM ein komisches Leistungsgefälle hatte. Gerade in der K.O.Phase: Einerseits gab es einige wenige, überragend Tore von Karel Poborsky und Davor Suker. Andererseits endeten 4 von 7 K.O. Spielen im Elfmeterschießen (dazu später mehr)... 3 dieser 4 Spiele endeten 0:0. In den 4 Vietelfinalen wurden insgesamt 3 Tore erzielt. Ganz großer Sport also... Aber hey, es geht ja eigentlich um das Fest drum herum.

Der Soundtrack des Turniers: Ob dies hier wirklich zu einem konstanten Teil der Serie wird? Keine Ahnung, vielleicht will ich ja nur mal erwähnen, wie geil "Three Lions on a shirt" war... wann immer das "Football's coming home" einsetzt, gibt es bei mir eine Gänsehaut. Und selbst dass genau diese Stelle während der WM 2006 in Deutschen Stadien missbraucht worden ist, kann daran nichts ändern.
Meine persönliche Theorie, warum Baddiel, Skinner and the Lightning Seed so sympathisch wirken und unsere Deutschen Experten wie Sportfreunde Stiller nicht? Nun ja, die Engländer singen von "30 years of hurt", die Deutschen von ihren großen Triumphen... Eine Strophe wie
"Everyone seems to know the score 
They've seen it all before
They just know
They're so sure
That England's gonna throw it away
Gonna blow it away
But I know they can play"
wäre im Deutschen Liedgut unvorstellbar... Aber in Deutschland wartet man halt auch nicht seit 44 Jahren auf einen Titel...

Wie dumm hat sich Deutschland angestellt? Nun ja, sachlich gesehen gar nicht. Also abgesehen davon, dass sie meine Engländer rausgekickt haben... und danach dann die Überraschungs-Tschechen, was meinen Goliath-Komplex vergrößerte, besiegten. Ist ein Goliath-Komplex eigentlich eine ernst zu nehmende Diagnose, oder habe das nur ich? Also falls nicht: Ich habe die ungute Angewohnheit im Zweifelsfall immer für den Außenseiter zu sein, auch wenn das im wesentlichen dazu führt, dass seine Mannschaft meistens verliert. Aber die "Kleinen" sind mir einfach sympathischer, keine Ahnung warum...
Jedenfalls war das halt schon die EM, bei der nicht mal Berti Vogts den Titel verhindern konnte, obwohl er darin sonst echt genial war. Und es war der Höhepunkt von Matthias Sammer. Der wirkte bei dieser EM einfach mal unbesiegbar.
Das einzige Problem, welches ich wirklich mit den Deutschen habe... ist Oliver Bierhoffs Aufstieg zum Nationalhelden. Denn der hat aus diesem Turnier definitiv den maximalen Profit geschlagen. Vorher war er genau genommen in der Bundesliga gescheitert und zu einem mittelklassigen italienischen Verein geflüchtet... mit dem Zwischenstopp Österreich. Zwischen dem Ende seiner U-21 Karriere und seinem richtigen Debüt lagen 6 lange Jahre. Aber er hatte halt seine erste halbwegs ordentliche Saison in Udine abgeliefert, was reichte um als Ergänzungsspieler mitzufahren. Und bis zum Finale hinterließ er auch keinen bleibenden Eindruck.
Nur um das mal zu relativieren: Deutschland hatte während des Turniers extreme Verletzungssorgen und einige böse Sperren fürs Finale zu verkraften. Es gab damals das Gerücht, dass Spielertrikots für die Ersatztorhüter bestellt worden sind... Trotzdem begann Oliver Bierhoff auf der Bank. Und da er bisher überhaupt keinen Eindruck hinterlassen hatte, wirkte seine Einwechslung eher wie eine Verzweiflungstat, denn er stand halt deutlich hinter Stefan Kuntz und Fredi Bobic in der Stürmerhierachie... Dann erzielte er natürlich das 1:1, wogegen man nichts sagen kann. Er setzt sich da sauber am 2. Pfosten durch. Aber dann wird ihm auch das 2:1 und damit das erste Golden Goal der Geschichte gut geschrieben... obwohl der Ball gefühlt von Petr Kuba ins eigene Tor geworfen wird.
Hier ist das faszinierende: Ohne dieses Geschenk des Tschechischen Torhüters wird Bierhoff nicht sofort zur Legende, hinterher Kapitän und noch später Manager der deutschen Nationalmannschaft... Da wird sich der eine oder andere Deutsche schon fragen, ob es das wirklich wert war...

Der schlechteste Titelträger: Damn, das hatte ich beim ersten Mal vergessen. Also es ist jetzt nicht so, dass diese Kategorie ausschließlich eingeführt wird um auf einem Deutschen rumzuhacken. Eher im Gegenteil, der Spieler, auf dem ich gleich rumhacke, ist mir zwangsweise sympathisch. Praktisch der einzige Sympath in dem Team. Aber die Serie hatte ich irgendwie eh schon im Hinterkopf. Denn bei jedem Turnier gibt es ja diese Spieler, bei denen man sich hinterher fragt: Warum darf der sich Welt- oder Europameister nennen, andere (Lionel Messi... Hust...) aber nicht. Und die erste Auszeichnung dieser Kategorie geht ganz klar an René Schneider.
René Schneider ist deswegen zwangsweise sympathisch, weil er eines der Gesichter der erfolgreichsten Hansa-Saison aller Zeiten war. Und im Gegensatz zu dem immer irgendwie verschmähten Stefan Beinlich, der ja eigentlich der Beste Spieler dieser Mannschaft war, durfte Schneider mit zur EM fahren. Also als der eine, der trotz der Verletzungssorgen ohne Einsatz blieb... Wahrscheinlich hätte Berti Vogts wirklich eher Oliver Kahn als Feldspieler gebracht, als ihn... dessen Rolle hätte also buchstäblich auch ein Beinlich übernehmen können.
Damit aber nicht genug: Nächste Saison gewann Schneider mit Borussia Dortmund die Champions League... bevor seine Karriere auf Grund einiger Verletzungen praktisch sehr schnell ausklang. Insgesamt absolvierte er 11 Ligaspiele für Dortmund. Zusammengerechnet kommt er auf 53 Bundesliga- und ein Länderspiel. Trotzdem darf er sich Europameister, Champions League Sieger UND Weltpokalsieger nennen... Das nenne ich mal eine unfassbar effiziente Karriere. Er hat halt sein eines gutes Jahr im genau richtigen Moment gehabt... und genau die Position gespielt, auf der Deutschland nicht extrem tief besetzt war...

Interessante Storylines: Kommen wir also zu den Elfmeterschießen: Denn davon gab es nicht nur verdammt viele. Es gab verdammt viele verdammt gut geschossene Elfmeter. Die Torhüter waren quasi bei 90% der Elfmeter komplett chancenlos. Völlig absurd wird direkt beim ersten Elfmeter von Johan de Kock: Der knallt das Ding mit der Gewalt eines Comichelden-Bösewichtes unter die Latte... und der Torwart hat nicht mal die Chance zu zucken. Ungefähr so sahen 75% aller Elfmeter aus.
Also ich habe mir die fragwürdigen Elfmeter, die ein Torwart theoretisch hätte halten können (oder die verschossen worden sind) mal notiert: Fernando Hierro zielt nicht ganz so gut die de Kock und jagt das Ding an die Latte. Miguel Angel Nadal, Clarance Seedorf und Reynald Pedros scheitern recht kläglich. Laurent Blanc hat de facto sogar Glück bei einem seiner Elfmeter. Faszinierender Weise verwandelt er den anderen souverän, obwohl er wegrutscht... Und Gareth Southgate verschießt den legendären Elfmeter im Halbfinale, der zum großartigen "Which way is the fastest out of Wembley? That's got to be the Southgate" Witz führte. Oh und Patrick Bergers Elfmeter im Finale war eine absolute Gurke, aber trotzdem drin. Alle anderen Elfmeter waren absurd gut geschossen. Auf dem "Die hält kein Torhüter der Welt" Niveau. Vor allem hatten die Leute damals noch die Eier in der Hose und haben ihre Elfer unter die Latte gezimmert (also nicht nur de Kock, sondern auch Andreas Möller im entscheidenden Versuch im Halbfinale). Heutzutage werden Elfmeter fast immer flach geschossen... Und die Zeiten, wo 9 von 10 Elfmetern souverän verwandelt worden sind, sind auch wieder vorbei... Stattdessen kommt es heutzutage sogar vor, dass eine Deutsche Mannschaft 3 Elfmeter gegen Italien verschießt und trotzdem weiter kommt... 1996 war aber das Turnier, in dem ein einziger verschossener Elfmeter das sichere Ende deiner Titelträume bedeutete.

Der erste große Auftritt: Das 96er Turnier war ja quasi der erste Auftritt der legendären französischen Generation. Deswegen muss diese Kategorie mit Zinedine Zidane beginnen. Der marschierte vor dem Turnier vom UI-Cup bis ins Uefa Cup Finale... Ältere erinnern sich noch an diese Wettbewerbe. Und nach dem Turnier wechselte er von Girondins Bordeaux zu Juventus Turin und wurde zu einem der erfolgreichsten Fußballer aller Zeiten. Außerdem Gründungsvater der "Galaktischen"... und im Gegensatz zu Ronaldo gewann er mit Real Madrid sogar die Champions League. Wenn Real damals mehr darauf geachtet hätte ein vernünftiges Team zusammen zustellen, anstatt jedes Jahr aus Prinzip einen neuen Offensivstar zu kaufen... wäre bestimmt noch mehr möglich gewesen.
Neben Zidane spielte Bixente Lizarazu, der ebenfalls in Bodreaux begann und später einer der besten Linksverteidiger der Bundesligageschichte werden sollte.
Wenn der Name "Zidane" schon gefallen ist, muss darauf direkt Pavel Nedved fallen. Denn der sollte Zidane später bei ersetzen. 1996 spielte er noch in der Heimat und nutzte das Turnier, um sich der großen Fußballwelt vorzustellen. Nedved dürfte der beste Tschechische Spieler aller Zeiten sein, auch wenn es nie zu den ganz großen internationalen Titeln reichte. Das ist quasi die philosophische Frage: Was ist einem lieber, Schneiders effiziente Karriere mit großen Titeln? Oder der allgemeine Respekt, der einen Nedved entgegen gebracht wird.  
Oh und dieses Turnier waren die 4 Wochen, in denen wir glaubte, dass Jordi Cruyff in die gigantischen Fußstapfen seines Vaters treten könnte... woran er endgültig scheitern musste. Obwohl er noch einige Jahre durch die europäischen Ligen geisterte und einem irgendwie immer wieder über den Weg lief. Also er spielte in einem der legendärsten Uefa Cup Finale aller Zeiten ein nicht ganz unwichtige Rolle... Allerdings auf der Verliererseite und für Deportivo Alaves, die es da irgendwie hin geschafft haben... Besser kann man Jordis Karriere nicht zusammenfassen.
Ein letzter Name ist dann Davor Suker. Obwohl er eher aus tragischen Gründen hier steht... und eigentlich gar nicht hier hingehört, denn er stand bereits 1990 im Kader von Jugoslawien. Sein Nationalmannschaftsstern ging aber erst 1996 in England auf... wo er als Kroate teilnimmt. Im Basketball denkt man hin und wieder daran, was für eine großartige Truppe durch den Bürgerkrieg in Jugoslawien zerrissen worden ist. Das hätte eine der besten europäischen Nationalmannschaften aller Zeiten werden können. Aber Vlade Divac und Toni Kukoc stand plötzlich auf unterschiedlichen Seiten der Front. Um nur 2 Namen zu nennen.
Den Fußballnationalmannschaften ging es genau genommen ähnlich: Der Kriegsausbruch ebnete Dänemark den Weg zum Titel. Und Kroaten hatten hinterher eine überragende Generation um Suker, Zvonimir Boban, Robert Prosinečki, Robert Jarni, Zvonimir Soldo (der eigentlich in diese Kategorie gehört... aber Details) und Slaven Bilic. Jetzt stelle man sich vor, diese Mannschaft würde mit Dragan Stojković, Siniša Mihajlović, Predrag Mijatović, Dejan Savićević und auch einem gewissen Hasan Salihamidžić verstärkt werden. Alles Spieler, die um die Jahrtausendwende für ein vereintes Jugoslawien hätten auflaufen können... und zusammen einen weiteren Titelanwärter für die Jahre 94 bis 2002 hätten stellen können.
Nun ist diese "Tragödie" im Großen und Ganzen natürlich zu vernachlässigen, schließlich reden wir vom letzten großen Krieg in Europa. Aber es ist trotzdem das größte "Was wäre wenn" unter den Nationalmannschaften. Die EM 92 ist definitiv durch den Bürgerkrieg entschieden worden, weil der Titelträger nur deswegen teilnahm. Aber wenn ein vereintes Jugoslawien Deutschland im Viertelfinale rauswirft, wie verläuft dann die WM 98, wenn Deutschland den Umbruch nicht auf Grund des Titels um 2 Jahre verschiebt? Oder gibt Lothar Matthäus einfach schon noch früher sein Comeback?

Das letzte große Hurra: Muss man hier eigentlich schon Matthias Sammer nennen? Leider ja. Es war halt seine vorletzte gesunde Saison. Dabei sei auch mal direkt erwähnt, dass Sammer den "abkippenden Sechser" damals quasi erfunden hat. Nur nannte man das damals noch "Libero vor der Abwehr"... Und 96 war das Jahr, in dem der extreme Ehrgeiz und der daraus resultierende übertriebene Antrieb eines Sammers den höchsten Ertrag einfuhr. Und der Mann wirkte wirklich unbesiegbar. Andererseits habe ich halt schon nach seinem Ausscheiden bei den Bayern einen Beitrag dazu geschrieben, wie eventuell genau dieser Antrieb auf all seinen Positionen im Fußball am Ende zu gesundheitlichen Problemen führte. Entweder bei ihm persönlich, oder aber im Kader.
Der Vollständigkeit halber sei Miroslav Kadlec erwähnt, der wohl als einziger Spieler des 1.FC Kaiserslautern beide Meisterschaften (91 und 98) mit erlebte. Und der als frisch gebackener Pokalsieger und Absteiger bis ins EM Finale vordrang, nur um dort dann an dem bereits erwähnten Kuba-Patzer zu scheitern. Hat es jemals eine einzelne Saison mit derart vielen Höhen und Tiefen gegeben? Offensichtlich, schließlich hatte Pavel Kuka exakt dieselbe Saison hinter sich... Dass 2 Spieler der tschechischen Nationalmannschaft auch die absurde Abstieg, Pokalsieg, Em-Finale Aufstieg, Meisterschafts Geschichte miterlebt haben, ist schon faszinierend.

Mein persönliches Fazit: Es ist faszinierend, dass man sich echt nur an die Höhepunkte erinnert. Dass die Traumtore von Gascoigne, Suker und Poborsky auf dem Menü stehen würden, wusste ich vorher schon. Aber dass die Hälfte aller Spiele ins Elfmeterschießen oder die Verlängerung gingen und es in der K.O. Phase extrem wenige Tore gab, habe ich erfolgreich verdrängt. Das liegt natürlich auch daran, dass es nur das eine in die Rückblicke und oder Promotrailer für das nächste Turnier schafft. Aber an der Stelle wird mir bewusst, dass man einfach nicht mehr beurteilen kann, ob ein Turnier jetzt "gut" oder "schlecht" war... was auch egal ist, wichtiger sind eh die persönlichen Erinnerungen...

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