Freitag, 3. April 2020

Passives Avseuts vs Tradition Teil 7: 2 Vereine 1 Gründungsjahr

Und auch sonst viele Gemeinsamkeiten. Trotzdem ist nur einer der beiden ein Traditionsverein?

Die Rede ist offensichtlich von Bayer 04 Leverkusen und Schalke 04. Beider Vereine wurden im Wesentlichen im Jahr 1904 gegründet. Schalke von den Kumpeln der Kohlegruben, Leverkusen auf Wunsch von 190 Mitarbeitern des Bayer Konzerns. Beide sind fest verankert in der Sportgeschichte dieses Landes.

Bayer Leverkusen förderte zum Beispiel 10 Olympiasieger und insgesamt 82 olympische Medaillen. Der Verein als ganzes ist weit mehr als ein künstliches Werbeprodukt für die Bayer AG. Nur ist halt den wenigsten bewusst, wie vielen Bayer-Athleten sie während der Sommerpause zugejubelt haben... weil das halt alles "sympathische Deutsche" und keine Angestellten einer Werkself waren.

Aber wenn man sich nur die Fußballvereine anguckt, sind die Parallelen faszinierend. In der Moderne hängt der eine am Gas der Russen, der andere an den Medikamenten des Chemiefabrikanten. Beides Geldgeber mit absoluter moralischer Integrität...

Beide spielen aktuell auf demselben Level: Alle 2-3 Jahre qualifiziert man sich für die Champions League, alle 4-5 Jahre spielt man eine richtige Scheiß-Saison und landet im Mittelfeld. Dazwischen gibt es verdammt viel Europa League. Beides sind echte Institutionen der Bundesliga: Man kann sich die Liga eigentlich nicht ohne sie vorstellen.

Vor allem auch geschichtlich. Also bundesligageschichtlich. Schalke hat natürlich historisch einen riesigen Vorsprung, weil sie 7 Mal Meister waren, bevor die Bundesliga überhaupt gegründet wurde. Aber das Problem daran ist: So was ist für Traditionsvereine relativ irrelevant. Klar, nice to have, aber halt nicht entscheidend.
Also lasst es mich mal an einem praktischen, heimatnahen Beispiel erklären... Mal wieder: Der 1.FC Lokomotive Leipzig gilt nicht als großer Traditionsverein, weil sie der erste Deutsche Fußballmeister waren (die hießen ja auch VfB Leipzig, aber wenn man das Lokis sagt, macht man sich unbeliebt...), sondern weil sei in der DDR ein großer Verein waren. Die 70er und 80er Jahre sind da wesentlich relevanter als alles, was vor den 60ern passiert ist.
Spontane These: Das könnte auch daran liegen, dass man sich dann mit der Phase "Titelsammeln unter dem Harkenkreuz", wie Wikipedia die Episode für die Schalker nennt, auseinander setzen muss... und es ist kein Vorwurf, dass man da nur bedingt Bock drauf hat. Aber laut Wikipedia ließ man sich "bewusst einspannen"...

Wenn man sich die Schalker und Leverkusen seit den 70ern anguckt, werden die Parallelen nur noch deutlicher: Beide Vereinsgeschichten sind geprägt von faszinierenden Europapokal Jahren. Legendären Siegeszügen über den Kontinent. Leverkusen und Schalke gewannen jeweils ein Mal den UEFA Cup. Die einen 1988, die anderen 96. Dazu hatte Leverkusen 2002 eine weitere legendäre Saison, in der man am Ende an Zinedine Zidane und Real Madrid scheiterte, Schalke kam 2011 völlig überraschend ins Halbfinale. Faszinierende Weise besiegte Schalke sowohl 1996 als auch 2002 nacheinander den FC Valencia und Inter Mailand...

Und National mussten sich beide im Wesentlichen mit den Erfolgen im DFB Pokal begnügen. Auch wenn Bayer den am Ende "nur"1993 gewann. Schalke war dagegen gefühlt die einzige Mannschaft, die die großen Bayern von 2000 bis 2010 im DFB Pokal schlagen konnten. Sie gewannen ihn 2001, 02 und 11. 2002 sogar gegen Bayer... Da, wo sich die Parallelen schneiden...

Und an der Stelle kommen wir zu den wichtigsten Titeln: Schalke ist "Meister der Herzen", Bayer "Vizekusen". Letzteres hat man sich sogar patentieren lassen. Auf der Liste der "spannendsten Titelkämpfe aller Zeiten" findet man beide Vereine... auf der Verliererseite. Michael Ballacks Eigentor vor den Toren Münchens, also in Unterhachingen, ist genau so legendär wie der unmotivert mit der Hand aufgenommene Rückpass von Mathias Schober in Hamburg.
Meine persönliche These ist ja gewesen, dass sich genau in solchen Momenten Traditonsvereine bilden. Also in den Momenten, wo das Herz des Fans gebrochen wird, entsteht diese extrem fest Bindung zwischen Anhang und und Klub. Nur halt in Leverkusen anscheinend nicht, damit ist diese These hinfällig.
Jedenfalls ist ja deine Meisterschaft in dem Moment gesichert, wo die entweder direkt hinter oder direkt vor Leverkusen oder Schalke stehst. Selbst wenn du am 33. Spieltag 6 Punkte Rückstand hast. Die werden das garantiert verkacken, du kannst also dein Meister-Merchandise in Auftrag geben...

Dann haben beide Vereine eine weiteres edles Gewürz in ihrer Suppe. Ich nenne das mal den Uli Hoeneß Effekt: Diese herausragende Persönlichkeit, die den Verein über Dekaden prägt und den man entweder hasst oder liebt. Den man aber schon für sein Lebenswerk in dem Verein respektieren muss. Auf Schalke heißt der Mann Rudi Assauer, in Leverkusen Rainer Calmund. Keiner kann die Genialität dieser Macher in Frage stellen. Aber es gibt auch wenig "och, der war ja eigentlich ganz nett" Grauzonen in der persönlichen Bewertung: Entweder man liebt Calmund und guckt sich deswegen Waldis WM Club an, oder man schaltet aus, weil der da sitzt und dummes Zeig quatscht. Ok, schlechtes Beispiel, weil Waldis WM Club schaltete man ja aus, weil Waldi da saß. Egal, es geht ums Prinzip...

An der Stelle müssen wir natürlich auch zu dem entscheidenden Unterschieden zwischen beiden Mannschaften kommen: Das Produkt auf dem Rasen. Also das, worum es eigentlich gehen soll. Schalke ist da... drücken wir es diplomatisch aus... ein ehrlicher Arbeiterklub. Hoeneß würde dagegen sagen: Die spielen einen richtigen Scheißdreck. So richtig grausame Folter für die Fußball-Ästheten.
Und bevor jetzt die Schalke Fans mit Fackeln und Forken vor meiner Haustür stehen... bedenkt bitte, wir haben gerade Social Distancing... kommt bitte jeweils nur zu 2., sonst gibt es Ärger mit dem Ordnungsamt.
Und sachlich gesehen gab es in diesen Jahrtausend einen Vizemeister, der noch grausameren Fußball gespielt halt als Schalke 04: Der VfB Stuttgart wurde mit 59 Punkte und 53 Toren Zweiter. Aber hier ist die schockierende Bilanz der Schalker:
2004/05 gab es 63 Punkte und 56 Tore.
2007/07 immerhin 68 Punkte, aber nur 53 Tore.
2009/10  65 Punkte und wieder 53 Tore.
Und 2017/18 63 Punkte und wieder 53 Tore.
Das kannst du dir echt nicht ausdenken. Anscheinend muss Schalke echt genau 53 Tore erzielen oder 63 Punkte sammeln um Vizemeister zu werden. Also nur mal so als Vergleicht: Letzte Saison wurde RB Leipzig mit 66 Punkten und 63 Toren... Dritter. In 3 von 4 Jahren reichen 63 Punkte nicht mal für Platz 3. Also Schalke selbst wurde 2012/13 mit 64 Punkten und 63 Toren DRITTER. Wahrscheinlich haben die in genau dem Moment festgestellt: Besser spielen hilft uns halt nicht weiter, lasst uns zu dem üblichen Gegurke zurückkehren...

Bayer Leverkusen dagegen steht, halt wegen Rainer Calmund, für brasilianische Importe. Also deren Jahrhundert-Elf besteht aus 5 Brasilianern: Lucio, Juan, Jorghino, Emerson und Zé Roberto... dazu hat noch einen Paolo Sergio auf der Bank. (Andererseits... sitzt da auch ein Carsten Ramelow auf er Bank...)
Schon zu Zeiten, wo "Brasilianer verpflichten" ein richtiges Experiment war (allein schon, weil man nur 3 Ausländer anstellen durfte), war Calmund DER Experte im Verpflichten und Integrieren von Südamerikanern. Zé Roberto galt zum Beispiel eigentlich als schon bei Real Madrid gescheitert und in Europa nicht brauchbar. In Leverkusen reifte er zur Fußballlegende.
Das stereotypische Ergebnis vieler Brasilianer ist dann ja offensiver und attraktiver Fußball. Also man erzielt halt 77 oder 74 Tore, nur um auch nicht Meister zu werden.

Leverkusen hatte ja zwischenzeitlich diese Sonderrolle im Deutschen Fußball. Also das "Europacup Phänomen". Damit meine ich folgendes: Wenn die eigentliche Mannschaft aus dem Europapokal ausgeschieden ist (also meistens so im März der Vorsaison), werden viele Fußballenthusiasten dann ja doch plötzlich zu Bayern-Fans. Weil man ja für die Deutschen Mannschaften sein muss. Das habe ich selber nie verstanden, es ist trotzdem ein weit verbreitetes Phänomen: Da jubelt man auf ein Mal am Dienstag für die Bayern, denen man am Samstag dann wieder gar nichts gönnt.
Und im Nationalen Rahmen war, gerade zur Jahrtausendwende, Bayer Leverkusen genau diese Mannschaft für die Bundesliga: Wenn sich deine eigene Mannschaft aus dem Meisterschaftsrennen verabschiedet hat, was halt für die meisten so am 3. Spieltag der Fall war, und du trotzdem eine Motivation gesucht hast um die Tabellenspitze weiter zu suchten... dann hast du dich hat für Bayer Leverkusen entschieden, denn die Bayern sind da halt keine Option, die gewinnen eh immer und du willst halt wenigstens auch guten Fußball sehen.
So wurde Leverkusen spätestens durch den Einzug ins Champions League Finale 2002, zur beliebten "Zweitmannschaft" unter den Fußballfans.
Und Leverkusen war ja auch perfekt, weil man praktisch kaum Rivalitäten mit anderen großen Fangruppen hat. Also solange man nicht gerade für Köln ist, guckt einen auch keiner dumm an, wenn man plötzlich jubelt wenn Leverkusen nen Tor erzielt...

Aber hier liegt wahrscheinlich auch die Wurzel des Problems: Leverkusen hat es weder Regional, noch Bundesweit, geschafft diese Fans komplett auf ihre Seite zu ziehen. So dass sie nicht nur bei der Sportschau Zusammenfassung auf Leverkusen achten, sondern zunächst mal auch das Sky Solospiel einschalten... und sich dann als nächstes nen Trikot und ne Dauerkarte zuzulegen.

Denn obwohl beide Vereine extrem viele Gemeinsamkeiten haben und Leverkusen in der Regel den attraktiveren Fußball bietet, lässt sich halt eines nicht leugnen: Schalke bewegt die Massen. Die brauchen halt ein 62.000 Mann Stadion, während für Leverkusen 30.000 reichen. Und Leverkusen kriegt das Ding mit 30.000 Mann ja nicht mal ausverkauft.
Und die Anziehungskraft von Schalke ist halt wirklich faszinierend. Und das meine ich, auch wenn es so klingt, gar nicht zynisch. Denn "Erfolgsfans" sind das ja nun wirklich nicht. Es dürfte weltweit keinen anderen Verein geben, der quasi wöchentlich 60.000 Leute in ein Stadion bewegt, obwohl man seit 70 Jahren keine einzige Meisterschaft gewonnen hat.
Also mit 160.000 Mitgliedern ist man in einer Weltweiten Liste auf Platz 6. Der Zuschauerschnitt wird nur von Barcelona, Borussia Dortmund, Manchester United, Real Madrid und Bayern München getoppt. Jede dieser Mannschaften hat mindestens 8 Meisterschaften geholt. Mindestens 5 seit 1990. Und mindestens ein Mal die Champions League. Schalke ist definitiv der erfolgloseste Verein auf dieser Liste.

Irgendwie hat Schalke es geschafft die Menschen in ihrer Region und darüber hinaus zu fesseln. Sie emotional mitzunehmen. Bayer Leverkusen ist dies nie wirklich gelungen. Deswegen kennt wohl auch jeder Fußballbegeisterte in seinem Freundes und Bekanntenkreis einen bekennenden Schalke Fan, aber keinen Anhänger von Bayer Leverkusen. Das ist zumindest meine Erfahrung.

Was aber zu der spannenden Frage führt: Wie verkauft man eigentlich Emotionen? Geht das? Kann man dafür ein Konzept entwickeln?
Zynisch gesagt: Die Borussia Dortmund KGaA haben genau dies geschafft. Ihre Fans merken es ja nicht mal, dass sie Anhänger eines Börsennotierten Unternehmens sind, sondern haben sich "Wahre Liebe" andrehen lassen. Leverkusen hat sich das "Vizekusen" Thema zwar patentieren lassen, es aber irgendwie verpasst darum eine große, emotionale Kampagne zu fahren...

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