Montag, 6. Januar 2025

Steffen Baumgart wird bei Union Berlin scheitern

 Das ist ja mal direkt ein Hottake zum neuen Jahr. Das wird entweder unter "PassivesAbseitsLeserwissenesfrüher" oder "-exklusiv" fallen. 

Aber lasst mal direkt den Elefanten im Raum adressieren: wenn die bei Union doch auf hohes Pressing stehen, hätten sie auch Bo Svensson behalten können. Denn Baumgart steht für genau die Art schnellen und aggressiven Fußball, den Svensson mit dieser Mannschaft nicht umsetzen konnte. 

Auch stellt sich die Frage, ob der Kader zu Baumgarts Idee von Offensivspiel passt. Es gibt ja Gründe, warum der immer wieder Davie Selke holt: Der passt mit seinem 1,95 m perfekt zu Baumgarts Idee eines Zielspielers. Dass er fußballerisch eher limitiert ist, ist da egal. Jetzt hofft man quasi darauf, dass Baumgart die eher im Sande verlaufende Karriere von Jordan wiederbeleben kann. Zuletzt war der in Berlin eher ein Ergänzungsspieler. Auch die Leihe nach Gladbach verlief nicht so positiv, dass die ihn behalten wollen. Die Voraussetzungen sind also eher schlecht.

Der eigentliche Lichtblick in der zugegeben sehr trägen Offensive war ja Benedict Hollerbach. Der taugt aber nicht zum Zielspieler. Man muss also entweder doch auf dem Transfermarkt zuschlagen... oder hoffen, dass Baumgart die Spieler weiterentwickelt oder reanimiert. 

Union glaubt ja, dass er diese fördern kann... Aber spricht die Bilanz wirklich für Baumgart?
Gucken wir uns mal die Bilanz in Köln an. Wie viele Spieler hat er da deutlich besser gemacht?

Da bleibt natürlich der eine Erfolgsfall hervorzuheben: Dass Ellyes Skhiri so gut wird, hat selbst in Köln niemand erwartet. "so gut" heißt hier, dass die Eintracht ihn plötzlich auf dem Radar hatte. "Niemand erwartet" heißt, dass er ablösefrei gegangen ist, was schon für eine krasse Fehlplanung spricht. Andererseits... war Skhiri schon vor Baumgart unumstrittener Stammspieler teil der Nationalmannschaft Marokkos.

Aber auf die Transferbilanz gucken, ist vielleicht gar nicht so falscher Ansatz, um die Spielerentwicklung zu beurteilen: Wie viele Spieler hat Baumgart denn so weit nach vorne gebracht, dass sie mit viel Gewinn verkauft werden konnten? Und wie viele dieser Spieler sind dann mit Baumgarts Hilfe groß durchgestartet?

Da haben wir dann... Sebastiaan Bornauw. 5,25 Millionen hat der 1. FC Köln an diesem Transfer verdient. Das ist beinah ein reiner Inflationsausgleich, denn Bornauw ist immer noch derselbe Verteidiger, wie damals: souverän und robust gegen den Ball. Starkes Kopfballspiel, aber mit dem Fuß sehr begrenzt. Dass der nach 2 Jahren so viel mehr wert sein soll, liegt mehr an der größeren Plattform und höheren Liga, in der er sich bewiesen hat, als an einer großartigen Entwicklung. Hätte diese stattgefunden, wäre er für 20 Millionen nach Dortmund gegangen.

Apropos Dortmund: die haben 5 Millionen für Salih Özcan bezahlt... warum die den überhaupt haben wollten, bleibt ein Rätsel, denn sachlich gesehen war der eher ein Spieler für Wolfsburg... wo er jetzt auf der Bank sitzt. Dazu kommen 7 Millionen für Ismail Jakobs, der mittlerweile in der Türkei gelandet ist. Das sind im Wesentlichen die beiden Jugendspieler, die Baumgart vorangebracht hat. Für 2 Jahre ordentlich, aber nicht überragend. Keiner der von ihm geförderten Spieler bringt internationales Niveau. Kein einziger Deutscher Nationalspieler wurde gefördert und hervorgebracht. 

Dazu kommen die Fälle, in denen diese Förderung komplett im Sande verlaufen ist: das schmerzhafteste Beispiel Stefan Tigges. Ich habe ja damals prognostiziert, dass beide Parteien von dem Tausch von Anthony Modeste und Tigges profitieren würden. Wobei mich im Nachhinein vor allem überrascht, wie positiv ich Modeste gesehen habe. Dass er sich einfach nur für ein Jahr richtig Mühe gegeben hat, um wieder einen fetten Vertrag angeboten zu bekommen, und danach in der Versenkung verschwindet, hätte man ahnen können. Es gab da keine "große Weiterentwicklung", sondern lediglich eine Wiederholung der 2016/17er Saison. Modeste ist das personifizierte "Contract Year Phenomenon". Nur, dass man als Fußballer dafür keinen auslaufenden Vertrag braucht.

Aber gerade mit der "Modeste wird wie immer wieder nachlassen" Erkenntnis sollte doch der Tausch gegen den wesentlich jüngeren Tigges noch besser aussehen... Der muss jetzt nicht mal viel liefern, um besser als Modeste in Dortmund abzuschneiden. Wenn Baumgart denn jetzt fördern und entwickeln kann, spielt Köln noch in der Bundesliga. Kurz auf die Tabelle geguckt: Tun sie nicht. 

Nebenbei lässt sich das gesamte letzte Jahr mit Baumgart genau darauf reduzieren: Aufgrund des ganzen Chaos um die Transfersperre und den Abschieden von Skhiri, Ondrej Duda und Jonas Hector war Baumgart in der Saison 2023/24 extrem als Entwickler gefordert. Er ist an dieser Aufgabe einfach mal gescheitert. So krass, dass er nicht mal das Jahr 2024 erreicht hat.

Und in Hamburg ist die Bilanz dann eher noch desaströser. Denn da hatte er zum ersten Mal in seiner Karriere einen, relativ zur Konkurrenz, richtig guten Kader. Da hätte er nur 2 oder 3 der jüngeren Spieler besser machen müssen, um souverän den Aufstieg zu sichern. Stattdessen holt er Marco Richter und Davie Selke... 

Das sind vielleicht auch, neben Christopher Antwi-Adjei, die Paradebeispiele für Baumgarts Förderung: Er nimmt Spieler, die vom Leistungsniveau irgendwo zwischen 1. und 2. Liga pendeln. Er bringt die dann häufig tatsächlich auf Bundesliganiveau. Er bringt mit seinem einfachen, aber intensiven Fußball diese Spieler und die Mannschaft zum Funktionieren. In der einen Saison, in der das perfekt gelaufen ist, ging es sogar nach Europa. Aber im Normalfall ist man froh, wenn man im unteren Mittelfeld landet. Spieler aber wirklich so essenziell besser zu machen, dass die wirklich in der Bundesliga mithalten können, gelang ihm nur ganz selten. 

Das bedeutet jetzt nicht, dass Baumgart ein schlechter Trainer ist. Wenn man mit relativ geringen finanziellen Mitteln eine Mannschaft stabilisieren muss, kann man den sofort holen. Wenn man mit dem Existenzkampf in der Bundesliga "zufrieden" ist, weil man erkannt hat, dass das alles ist, was wirtschaftlich noch stemmbar ist, ist Baumgart dein perfekter Trainer. 

Aber ein Investorenverein wie Union Berlin wird sich damit nicht zufriedengeben. Und ja, wenn die eine natürliche und normale Entwicklung genommen hätten, wäre Baumgart genau der richtige Mann. Aber dieser Verein hat einige Entwicklungsschritte übersprungen. Er steckt mal so nebenbei 20-30 Millionen Euro in die Ablösen seiner Neuzugänge... Die zwischen 2021 und 2023 haben die jede Saison mehr Geld in Transfers gesteckt, als Baumgarts Vereine in seiner gesamten bisherigen Karriere. Da muss man auch von einer ganz anderen Erwartungshaltung ausgehen: Einfach nur graues Mittelfeld wird da nicht reichen. Deswegen haben sie ja Bo Svensson entlassen.
Und der Unterschied zwischen Svensson und Baumgart ist einfach nicht so relevant, dass man den einen unbedingt entlassen muss, wenn er an sich im Soll liegt, um den anderen zu holen.

Freitag, 3. Januar 2025

Passives Abseits Albumcharts 2024

 Wegen der Tradition und so...

Nebenbei überdenke ich gerade meine Arbeitsweise. Also ich höre die Alben, bis auf die Top 5, in "chronologischer Reihenfolge", schreibe die "Review" und sortiere die dann ein. Das könnte beim Lesefluss auffallen, weil ich vielleicht auf Dinge Bezug nehme, die erst noch kommen. Und wie immer ist es am Ende wichtiger, dass mir das Album dieses Jahr über den Weg gelaufen ist, und nicht, dass es wirklich dieses Jahr rauskam. Das erste Album ist... acid.milch&honig.

Und ja, ich hab in der letzten Woche etwa 38 Alben durchgehört, die für mich zu sortieren... Trotzdem habe ich noch "Honorable Mentions: Tyna's PNK ist noch zu neu im Plattenregal. Genau so wie das "Ich bleibe nicht hier" Album von Deine Cuisine. Die bringt nächstes Jahr ein neues Album raus, deswegen werde ich das "aktuelle" nicht mehr in die Charts einfügen. Tanner Adells Buckel Bunny ist diese neue, selbstbewusste Country Musik, die Beyoncé inspiriert hat und alte, weiße Männer überfordert. Es ist aber auch nur eine EP und deswegen etwas zu kurz, um hier aufzutauchen. Freekinds "Good News" ist ebenfalls "nur" eine EP... aber vertraut mir, wenn ich euch sage, dass es sich lohnt, sich dafür einen Schallplattenspieler zu holen, weil es dieses Werk ausschließlich auf Vinyl gibt. Dota und Dan's De Repente Fortaleza ist halt eher eines dieser Zwischenprojekte als ein richtiges Album. Und es wäre leichte, diese Platte einzusortieren, wenn ich portugiesisch könnte. Spax's "Engel und Ratten" war das beste Hip Hop Album des Jahres... 2003. Aber geil, dass es ein Rerelease gab, da ich die Platte zwischenzeitlich mal verkaufen musste.

Platz 40: Antonia Hausmann - Teleidoscope: Ein Jazz-Album muss halt in die Charts. Und das Antonia Hausmann Album kann man schlecht hinten runterfallen lassen. Schließlich war sie still und heimlich schon viel zu oft in den Albumcharts vertreten. Hauptsächlich als Teil von Karl die Große. Aber eben auch Teil der Liveband von Clueso. Oder bei Fatoni. Oder, oder, oder. Wenn man die Linar Notes deutscher Alben liest, stolpert man häufiger über diesen Namen. Wenn man eine Posaune braucht, ruft man bei Hausmann an... oder so. Das Album selber sind halt klassische Jazz-Kompositionen, die genau um diese Posaune aufgebaut wurden.

Platz 39: Ant - Collection of Sounds Vol. 1+2: Normalsterbliche so: Braucht man wirklich 2 Instrumental-Alben von Ant, wenn man bereits 36 Atmosphere, 15 Borther Ali Vinyls und die gesamte Felt-Collection hat? Also in der Summe deutlich über 50 Platten mit Beats von diesem Mann? Ich so: Volume 3 kommt im Januar!!! Die Platten bestehen im wesentlichen aus Beatskizzen, die man wunderbar zum Freestylen nutzen kann. Zumindest will ich mir das einreden, damit nicht nur mein Sammlerherz was von der Platte hat.

Platz 38: DJ Stylewarz - Hall of Fame: Stylewarz ist und bleibt halt eine Oldschool Legende. Der letzte DJ vom Alte Schule Sampler, der wirklich noch aktiv ist. Und der alle paar Jahre seine Freunde einlädt und ein neues Album raushaut. Für die wirklichen  Highlights sorgen dann Umse auf "Family Biz" und Ferris MC auf "Hall of Fame". Dazu kommen 3 reine DJ Tracks in denen Stylewarz beweist, dass er immer noch scratchen kann, auch wenn er die Schallplatten längst durch Laptops ersetzt hat... weil halt auch ein Oldschooler auf Nachhaltigkeit setzt.

Platz 37: Get Jealous - Casually Breaking Hearts: Das ist dann der erste Eintrag aus der Kategorie: "Das wird ja immer rockiger hier!" Isso. Ich fühle mich halt mittlerweile bei jungen und aufstrebenden (Punk)-Rocker*innen wohler, als bei der neusten Hip Hop Generation. Das ich mich vom Hip Hop entferne, ist keine ganz neue Erkenntnis... dass ich mittlerweile auch lieber bei Punk bin, irgendwie schon. Was man diesen Charts anmerken wird. Das Konzept hier ist denkbar einfach: Harte Gitarren auf einfachen Drums. Dazu kommt die Verarbeitung der Genderdysphorie von Leadsängerin Otto. Was auch am Ende zum stärksten Song des Albums führt.

Platz 36: Ätna - Lucky Dancer: Wahrscheinlich ist dies das Album, welches in einem Jahr am weitesten nach oben verschoben werden muss. Denn ich muss ganz ehrlich zugeben: So richtig verstehe ich es noch nicht. Das war aber bei Ätna Alben immer so und dieses ist noch relativ neu in der Playlist. Ätna sind immer noch Inez am Gesang und Demian am Schlagzeug. Dazu jede Menge Effekte und Synths. Es ist aber auch kein Zufall, dass ich die beiden bereits 2 Mal mit einem Orchester auf der Bühne gesehen habe. Denn die Alben sind echt komplex, da kann man mit dem großen Besteck einiges rausholen. Aber die beiden haben Musik auch an der Uni studiert.
Das neue Album ist atmosphärischer als die alten Sachen. Es gibt mehr Flächen und weniger Tanzmusik. Das fiel mir vor allem auf, als Live dann endlich "Trick by Trick" gespielt wurde. Da dachte sich die Menge: Das sind die Bänger, für die ich Eintritt bezahlt habe. "My first high" ist bis jetzt mein Lieblingssong, weil da das Schlagzeug richtig kickt. Inez Stimme funktioniert für mich auf "Hiatus" am Besten.

Platz 35: Endless Wellness - Endless Wellness: Dieses Album lässt sich relativ schnell zusammenfassen: Wenn man sich mit der markanten Gesangsstimme von Philipp Auer anfreunden kann, findet man hier eine sympathische Band. Was halt auch irgendwie unfair ist, weil wir hier auch wirklich von einer Band reden. Dennoch kann man schon nach dem Opener "Donnerwetterblitz", der nur mit Gitarre und Stimme beginnt, feststellen, ob das was für einen ist. Die Kompositionen werden auf dem Album auch gerne durch Streicherarrangements erweitert. Heraus kommt ein Album, das zu sanft für Rock ist, aber zu komplex ist, um als Pop durchzugehen. Das nennt man dann wohl "Alternativ und Indie"... Die Texte lassen sich am ehesten mit AnnenMeyKanterei vergleichen: Also man weiß nicht wirklich, ob das jetzt tiefgründig und lyrisch oder doch einfach nur sinnlos ist. "Hand im Gesicht" ist da das perfekte Beispiel: Ich hab den Text bis jetzt nicht wirklich verstanden, aber er hat halt eine Geralt von Rivia Referenz, deswegen suche ich weiter... Aber am Ende erwische ich mich immer wieder, wie ich bei "Danke für alles" mitsinge: "Wir haben heute nichts versäumt, das waren die Eltern." Funktioniert also zumindest für mich.

Platz 34: Marsimoto - Keine Intelligenz: Vor Jahren habe ich ja mal behauptet, dass Marsi das kreativere Alter Ego von Marteria ist. Mittlerweile ist das irgendwie vorbei. Denn Marsi macht irgendwie das, was er halt immer macht: mit seiner hochgepitchten Stimme über ausproduzierte Beats rappen. Mal, wie auf "Heile Welt", "Washington PC" und "Das Gehirn" mit besser funktionierenden Ideen. Aber auch mit viel Durchschnitt. Am Ende ist es einfach auch Zeit, dass sich der Marsianer von diesem Planeten verabschiedet. War eine Geile Zeit, aber wirklich was neues kommt da nicht mehr.  

Platz 33: Borislav Slavov - Baldur's Gate 3 Soundtrack: Falls ihr es verpasst habt: Baldurs Gate 3 ist das beste Spiel aller Zeiten. Ein wahrer Gamechanger einer kleinen Indie Firma, welches letztes Jahr so ziemlich alles Platt gemacht hat und den großen Firmen verdeutlicht hat, dass man sehr Wohl erfolgreich sein kann, wenn man Detailliebe anstatt Micro Transactions liefert. Mitten in diesem Spiel kommt dann in einem der wichtigsten Kämpfe dieser Schatz als Hintergrund Musik. Und obwohl man Ewigkeiten an dem Kampf sitzt, wird der Song auch nach 30 Minuten in der Endlosschleife nie langweilig. Nachdem ich dann mit dem Spiel durch war und alle alten Gefährten von Baldurs Gate 2 umgebracht habe, wollte ich Larian Studios unbedingt noch etwas Geld geben... also bestellte ich die Limited Edition Vinyl, nur um diesen einen Song zu besitzen. Als sie nach einem halben Jahr endlich ankam, musste ich kurz darüber nachdenken, ob ich sie nicht eingeschweißt lassen soll... weil die Platte laut Discogs seinen Wert verdreifacht hat und damit eine verdammt gute Wertanlage ist... Ich wollte aber Raphaels Final Act mindestens ein Mal auflegen. Der Rest des Albums besteht aus einigen "Barden Hymnen" und ganz viel atmosphärischer Musik.

Platz 32: Textor - So tun als ob: Was soll man dazu schon groß sagen, außer: Textor taucht halt alle 4 Jahre aus der Versenkung auf und tut dann Textor-Dinge. Ob jetzt mit seinem langjährigen Partner Quasimodo als Kinderzimmer Productions, oder jetzt wieder Solo. Danach spielt er 5 handverlesene Konzerte und verschwindet wieder in der Versenkung. Die Frage, ob Textor dabei ein guter MC ist, der die ganzen komischen Dinge, die er so macht, mit Absicht einbaut, oder ob er eben einfach kein guter MC ist, wird nie final beantwortet werden. Das ist mittlerweile aber auch egal. Ob es wirklich Sinn ergibt, sich zu Fragen, was der Philosoph Andi Brehme dazu sagt, wird auch nie final geklärt werden.. Da hat jemand seine Nische gefunden und macht einfach nur sein seltsames Ding. Wer es mag, wird all die Alben lieben. Wer schon mit den alten Sachen nichts anfangen konnte, wird jetzt nicht plötzlich den Aha Moment erleben und Fan werden.

Platz 31: Klan - Das Ende der Welt: Das soll das letzte Klan Album werden. Sie haben ja auch alles erreicht, was von ihnen erwartbar war: Popmusik mit guten deutschen Texten. Dem Album hört man deutlich an, dass die beiden Brüder schon vorher der ersten Note wussten, dass es ihr Abschied werden soll. Da wurde noch einmal "vollgetankt" und Gas gegeben. Die neue Welt ist schon bestellt, aber man wartet vergeblich auf den Postboten. Gefühlt gab es auf dem Jaaaaaaaaa! Album mehr politischen Inhalt, aber wenn man sich verabschieden will, muss man sich wahrscheinlich auch mit sich selbst beschäftigen. Als letzten Track gibt es dann ein "war schön mit euch." Das kann man so stehen lassen.

Platz 30: Mal Élevé & Osy - Amour Résistance: Mal Élevé ist und bleibt ein unverbesserlicher Optimist. Seit 20 Jahren kündigt er die kommende Revolution an und liefert weltweiten Widerstand. Jetzt halt im Namen der Liebe. Und mit dem wesentlich jüngeren Osy als neuer Partner in Crime. Live reißen die beiden immer noch alles ab. Auf den Alben passiert genau genommen wenig neues: Man träumt von einer anderen Welt, solidarisiert sich mit den Antifaschisten und redet nicht mit Polizisten und fordert mit Rio Reiser Referenz zum Häuser besetzen auf. Das ist halt einer dieser Künstler, bei denen die Haltung wichtiger ist, als die musikalischen Details.

Platz 29:Smile - Price of Progress: Das eine wirklich schlimme an einer Fußball-EM in eigenem Land ist ja, dass das restliche kulturelle Leben noch mehr zum Erliegen kommt, als das im Sommer sonst der Fall ist. Und auch wenn sie sich bei der Fan Meile in Leipzig mit den Live-Acts wirklich viel Mühe gegeben haben: Nach 2 Wochen habe ich einfach die stickigen und engen Clubs vermisst. Also bin ich zu Smile in die Ilse. Einfach nur, um wieder ein Clubkonzert zu sehen. Und als die Leadsängerin dann zum Auftakt durch die Crowd ist, wurde mir wieder bewusst, dass sich der ganze Schweißgeruch doch lohnt.
Das Album selber wird durch den buchstäblichen Sprechgesang geprägt. Umgeben werden die von robusten Gitarren, was dem ganzen einen eher psychedelischen Post-Punk Vibe gibt. Wirklich absurd wird es dann, wenn eine Amerikanische Sängerin dir erklärt, was ein "Herrengedeck" ist.

Platz 28: the Sensitives - Patch it up an go!: Die 3 spielen reinsten Punkrock: Schlagzeug, Gitarre und Bass. Dazu eine männliche und eine weibliche Gesangstimme. Viel mehr brauchen die nicht. Sie sind deutlich schneller und härter als Smile. Wie sich das für ordentliche Punk Musik gehört, passiert musikalisch auch nicht viel, aber die Energie ist schon ansteckend. Das ist halt Musik, zu der man live pogen sollte. "If only I could learn from my mistakes, I'll be an expert now" ist eine dieser einfachen Lebensweisheiten, die man so wunderbar zu Musik machen kann. Genau so wie "All I ever needed to live, was something to die for."

Platz 27: Ami Warning - Auszeit: Im Gegensatz zu all den meisten anderen Alben, leidet dieses Exemplar unter dem Nachteil, dass ich die Tour nicht Live sehen konnte... weil die Konzerte tatsächlich ausverkauft waren. Was ihr aber auch einfach zu gönnen ist. 10 Jahre nach ihrem Debüt Album hat sie den Schritt von der Vorband zum Headliner der eigenen, ausverkauften Tour gemacht. Ami Warning ist nebenbei auch eine dieser Künstlerinnen, die selbst bei Festival- oder Vorband-Auftritten mit gekürzter Zeit immer mal wieder ins Publikum fragt, was sie denn jetzt spielen soll.
So viel verändert hat sich aber gar nicht. Die Produktion ist etwas Bandlastiger, aber im Wesentlichen ist es immer noch eine warme Gesangsstimme und die Gitrarre, die das Album prägen. Das Highlight ist dann, wie häufig, der Titeltrack. Fatoni klärt im "war dabei" dann, ob das jetzt unter "Singer/Songwriter" oder R'n'B läuft: es featurerd ein Rapper, es muss also R'n'B sein... "Liebe ist laut" verdeutlicht, wie gut sich Mola und Ami ergänzen.

Platz 26: Karo Lynn - a line in my skin: Die wohl teuerste Erkenntnis des Jahres war ja, dass zumindest ich nicht wirklich Geld spare, wenn ich bei Konzerten auf der Gästeliste stehe. Das bekomme ich mittlerweile nämlich relativ häufig hin... nur kaufe ich dann 1 bis 2 Platten von Bands, die ich sonst nie kennengelernt hätte. Das erste Mal passierte mir das bei Karo Lynn, wo ich direkt beide gekauft habe. Andere Beispiele wären Polis, Florian Paul und die Kapelle der letzten Hoffnung, Josh und Hayiti. Um die "Moritzbastei Honorable Mentions List" auch abzuharken.
Karo Lynn macht jedenfalls eher düstere Popmusik. Also ich würde am ehesten die Tuvaband als Referenz, die keiner versteht, angeben. Der Sound ist eher düster, die Texte schwanken zwischen melancholisch und abstrakt. Mein persönliches Highlight ist der "are you shaking, or am I?" Part auf It's breaking the ice. Den gibt es aber online nur in der Akkustik Version, welches den elektronischeren Klang des Albums nicht wirklich repräsentiert. Deswegen wird der Titelsong auch noch verlinkt.

Platz 25: acid.milch&honig - acid.milch&honig: Oder so. Wie heißt das Ding eigentlich? Discogs behauptet: Genau so. Und eigentlich gehört es noch in die letzten Charts, weil auf dem Album 30.11.23 steht... Anyhow: Der Typ ist ein Leipziger Elektropunk Mysterium. Also der war irgendwie immer präsent, aber nie wirklich da. Man lief sich immer wieder bei der einen oder anderen Live Eskalation über den Weg. Diese Liveauftritte arten auch gerne in Elektro Cover Versionen "beliebter" Popsongs aus. Gerüchte über ein Album gab es schon vor 10 Jahren, aber dass es wirklich fertig werden würde, war zu bezweifeln. Bis zur Release Show an eben dem 30.11.. Hat sich das Warten gelohnt? Wenn man auf Elektropunk mit dämlichen Texten steht, schon. Aber eigentlich ist das eher ein Live-Ding. Ganz nach dem Motto: "Wir machen hier alles kaputt!" Wenn man den Panzersong mag, mag man auch den Rest, wenn nicht, dann brauch man das Album auch nicht...

Platz 24: FeurigseinPeter - Punk Revolution: Wo wir gerade schon bei Leipziger Subkultur waren: Ich dürfte der einzige Mensch auf der Welt sein, der dieses Album gekauft hat... weil ich Spotify konsequent verweigere und dem Gitarristen 5 Euro in die Hand gedrückt habe, damit er mir die MP3s schickt. Die wurden dann garantiert in Sterni investiert. FeurigseinPeter ist halt dann halt reiner Punk. Da gibt es also genügend Trinklieder, um Alben zu füllen. Aber mit Regenauf Asphalt liefern sie ein überraschend melancholisch/politisches Lied ab... was dann natürlich am wenigsten abgespielt wird. Und mit "Schwurbelfrei" eine leider viel zu nötige Hymne gegen Querdenker und Nazis. Oh und da bin ich kurz im Video zu sehen, das ist dann nach dem Chor im "Akustisch und Live" von 100 Kilo Herz die nächste "Cameo"...

Platz 23: Sobi - Beloved Child: Aus der "Ich bin da ins Konzert gestolpert, weil ich nix zu tun hatte" Kategorie kommt die Beloved Child Platte von Sobi. Man kann ja auch mal die kleinen Siege des Lebens feiern, anstatt sich mit den ganzen Problemen zu beschäftigen. Ist auch viel gesünder. Dieses Album strahlt eine gewisse Zufriedenheit und Geborgenheit aus, die man in der kommerziell ausgelegten und erfolgreichen Musik einfach nicht findet.

Platz 22: Grossstadtgeflüster - Das Über-ICKE: Das ist eine von diesen Bands, die ich ewig so halb auf dem Radar hatte, bei denen der Funke nicht wirklich überspringen wollte. Auch wenn es mehr nach vorne geht, ist die Band ähnlich wie Mine: Einzigartiger, fetter Sound und gute Texte. Nur halt eher für den Club, als fürs Heimkino. Und die Texte sind oftmals eher albern. Neu ist halt, dass diese Textideen bei mir besser klicken, als auf den "alten" Alben. Dafür habe ich mich selber ein Mal zu oft fragen hören "Wo ist das Ketchup?" Und natürlich habe ich die AGBs keine Gültigkeit, weil ich die gar nicht les'.

Platz 21: Marie Curry - Cameo: Ich bin ein wenig verwirrt, weil die Frau ein straightes Hip Hop Album rausbringt. Denn "Alles groß" vom letzten Neonschwarz-Album war ja eher ein angesungener Song. Und dieses Ding soll das Solo-Projekt ja getriggert haben. Aber am Ende ist es die Vollendung der Wandlung von der Chorus-Gesangsstimme zur guten Rapperin. Nicht überragend, aber gut genug, um ein halbstündiges Soloalbum zu tragen. Das hätte ich, ganz ehrlich, nach den ersten Neonschwarz Alben nicht erwartet. Dass der Name der Band jetzt schon zum Zweiten Mal fällt, zeigt aber das große Problem dieses Albums: Diese Band ist zusammen deutlich besser, als ihre Einzelteile. Sie ergänzen sich einfach, also fehlt bei so einem Solo-Album etwas. Trotzdem bleibt ein sehr solides Solodebüt mit klarer feministischer Kante. Wer eine Janelle Monaé Referenz einbaut, ist bei mir immer beliebt. Außerdem kommt das Album mit dem Gütesiegel des einzigen Millie Dance Part des Jahres. 

Platz 21: Chloé - Trouble in Paradise: Chloe legt direkt ihr zweites Soloalbum nach. Da ich mit dem letzten Album nicht so wirklich warm geworden bin, komme ich damit sehr gut klar. Trouble in Paradise gefällt mir persönlich besser, weil endlich wieder vernünftig gesungen wird, anstatt auf das Ciara-sques minimalistischeren Sprechgesang zu setzen. Chloe hat ja die Range, und das zeigt sie jetzt endlich auch wieder. "Strawberry Lemonade" geht verdammt gut ins Ohr. "Nice Girls finish last" ist herrlich versaut. In "Roses" geht es nur um Selbstbefriedigung. Wenn sei dann ein "Stupid Motherfucker" raushaut, hat das einfach eine ansteckende Energie.

Platz 20: Nichtseattle - Haus: Heute in der beliebten Serie "Absurde Konzeptalben": Wir nennen das Album Haus, bauen das Artwork um ein Zelt auf, das an verschiedenen Orten aufgestellt wird, und geben dann jedem Song einen zusätzlichen (Titel), der sich auf ein Haus bezieht. Und die Vinyl kommt natürlich mit einer H-, einer A-, einer U- und einer S-Seite. Fertig ist die Grundidee von diesem Album. Geprägt wird es durch wirklich komplexe Kompositionen. Auf diesem Song sind die "kürzeren Lieder" 4 Minuten lang. Dass der Name für dieses Projekt eine Tocotronic Referenz ist, ergibt auch Sinn, denn die Texte orientieren sich schon am Anspruch dieser Band. Man muss wirklich in die Platte reinhören, um sie halbwegs zu verstehen. "Frau sein" dreht sich darum, was dies für verschiedene Generationen bedeutet... und beginnt mit einem "Ich will das nicht!" und endet mit einem "Ich mach das nicht!" Auf "Beluga" alleine passiert inhaltlich mehr, als auf manchen Hip Hop Alben der Neuzeit. Das ganze endet dann in einem "Ich bin immer soo fleißig/ und trotzdem: irgendwie reicht's nicht."

Platz 19: Ferris MC - Mortal Comeback: Damit, dass Ferris im Jahr 2024 nochmal ein tightes und reifes Album abliefert, hätte wohl niemand gerechnet. Also inklusive Ferris selbst, denn wenn man so grob über seine Biographie und seine Drogenexzesse geht, ist es schon eine Überraschung, dass der überhaupt noch lebt. Und auf Einklang beginnt er dann mit "So fühlt sich die Welt clean an." Gerade bei dem Text merkt man, dass Ferris selber nicht so wirklich glauben kann, dass er angekommen ist. Auf die Exzesse und das Gelaber hinter seinem Rücken versucht der sucht der "Freak" jetzt mit einem Lächeln zurückzuschauen. Auf "28325" schaut er auf Bremen Tenever als seine Urkatastrophe zurück, hält aber auch fest, dass dies Vergangenheit ist. Dem Mann geht es mittlerweile gut und as hat er sich verdient. Dafür musste er halt auch das eine oder andere "Trauma" verarbeiten. Faszinierenderweise kommt Ferris auch 2024 mehr über die Stimme und die Attitüde, weniger über die Technik und die Reime... nur ist die Attitüde mittlerweile "Familienvater" und nicht mehr "Assi".

Platz 18: 3% - Kill The Dead: Das Highlight der letzten Nachmittagssession im legendären Molotow waren diese 3 Rapper aus Australien. Die Wut und die Haltung erinnern an Public Enemy, nur halt ohne den schon immer eher nervigen Flavor Flav... Und dem Fakt, dass es schon nach 2024 und nicht nach 1988 klingt. BnP! Der Name der Band bezieht sich darauf, dass nur noch 3,8% der australischen Bevölkerung Aboriginals sind. In dem Album geht es dann hauptsächlich darum, wie beschissen mit denen umgegangen wird. Die wollen doch nur ihr Land zurück. Und beschweren sich darüber, dass viel zu viele von ihnen im Knast sitzen. Das wird natürlich komplett untergehen, weil sich niemand für die Probleme der Australischen Ureinwohner interessiert. Das Album sollte aber genau deswegen gehört werden.

Platz 17: Adam Angst - Twist: Wie geht man am Besten mit beschissenen Wahlergebnissen um? Kurzfristig, indem man sicher stellt, dass man für den Abend ein Punkrock-Konzert-Ticket hat. Denn gerade wenn die Rechten an die Urnen marschieren, hilft es, sich auf linksgrünversiften Konzerten daran zu erinnern, dass man doch nicht alleine ist. Und ja, genau so bin ich zu Adam Angst gestolpert. Ich suchte... "eine Lösung für deine Probleme." Twist ist nebenbei ein wirklich treffender Albumtitel, denn viele Songs kommen tatsächlich genau mit einem Plot Twist. "Unter meinem Fenster" behandelt das mir viel zu bekannte Problem, dass man eigentlich gar nicht mehr an die Tür gehen will, wenn es klingelt, weil dieser Knopf eh nur von Menschen benutzt wird, die man nicht sehen will... Nur um am Ende zu hoffen, dass doch noch jemand klingelt, wenn man irgendwann alt ist. "Mindset" wirkt im Chorus einfach nur wie eines dieser "Jetzt bitte durchdrehen" Live-Stücke, geht dann aber um toxische Influencer und Life-Coaches, die dir einreden, dass du ihnen dein Geld geben musst. "Wir sind zusammen" beginnt eigentlich wie ein schönes Liebeslied... wird aber ein Anti-Lead, indem es darum geht, wie nervig es ist, wenn andere dieses "Nein wir sind zusammen!" raushängen lassen. Es endet in einem "Seit ihr eigentlich ein Paar? NEIN, wir sind zusammen!" "Range Rover" ist dagegen relativ straight um die Wohnungssuche in Großstädten und Gentrifizierung... was halt ein immer wichtiger werdendes Thema ist, das jetzt auch in der Musik ankommt. Großartiges Songwriting. Und damit kriegt man mich immer.

Platz 16: Lola Young - this wasn't meant for you anyway: Gut, dass wir das vorher geklärt haben. Ich hoffe, es ist OK, dass ich es trotzdem feiere. Oder gerade deswegen. Meine Vorliebe für britische Sängerinnen, die mir beim Reeperbahn Festival über den Weg laufen, dürfte weitläufig bekannt sein. Das Debütalbum von Brooke Combe ist schon fast im Versand. Celeste und Jox Crooks müssen mal ihr 2. Album nachlegen. Bis dahin muss Lola Young übernehmen. Die ist tatsächlich schon bei ihrem 2. Album. Und das ist um einiges rotziger und punkiger, als das eigentlich zu erwarten war. Ihre Lieblingsvokabeln, neben dem obligatorischen "I", dürften "cunt" und "fuck" sein. Der Rest wird mit "wish you were dead" aufgefüllt. Das fasst die Grundstimmung, die sich durch das Album zieht, ganz gut zusammen. Da musste jemand ganz dringen Frust abbauen und das kann dann auch mal "messy" werden. Ob das ein Außreißer ist, oder ihr Vorgängeralbum "My Mind Wanders and Sometimes Leaves Completly" auch so derbe ist, kann ich noch nicht beurteilen, es steht halt noch eingeschweißt vor dem Plattenregal. Aber das aktuelle Album ist so gut, dass ich ohne reinzuhören den Vorgänger, den ich bei Release irgendwie verpasst habe, gekauft habe... Auch nen Qualitätsurteil.

Platz 15: Reinhard Mey - Nach Haus: Es ist für mich praktisch unmöglich, Reinhard Mey sachlich einzuordnen. Das ist halt meine Urkatastrophe. Der erste Musiker, den ich jemals bewusst gehört habe. Und damit werde ich auch nie aufhören. Da der ein für Musike biblisches Alter erreicht hat, ist jedes Album und jede Tournee ein Geschenk. Dass der Mann sich als Ü80-jähriger 16 Tage am Stück alleine auf die Bühne gestellt hat, um 2 Stunden Konzerte zu geben, ist völlig absurd...
Aber anderseits ist seine beste Zeit lange vorbei. Die absoluten Highlights der frühen 90er Jahre hat er schon lange nicht mehr erreicht. Trotzdem schafft es immer noch kaum jemand, so feinfühlig und präzise mit der Sprache umzugehen, wie Reinhard Mey. Der ist halt der beste deutsche Lyriker seit Goethe, da bleibe ich bei.
Dieses Album ist dann tatsächlich wieder politischer. Also explizit politischer, den linksgrünversifte Gutmenschenmusik war das ja immer. Was im Endeffekt damit begann, dass er sich auf seiner Homepage von all den Spinnern distanzieren musste, weil die seine Lieder missbrauchen wollten. Aber auch ein Reinhard Mey muss sich halt damit beschäftigen, dass sein totaler Pazifismus in Zeiten des Ukraine Krieges an seine Grenzen kommt. Krieg im allgemeinen ist auf dem Album sehr präsent. Sei es auf explizit "Verschollen" und "Black and White 1945", oder zwischen den Zeilen auf "Questo tavolo non sie vende". Dort bekommt Reinhard einen nicht zum verkauf stehenden Tisch geschenkt, weil er sich die Lebensgeschichte dieses Tisches anhört. Der Höhepunkt des Albums ist definitiv "Zwischen Kontrollpunkt Drewitz und der Brücke von Dreilinden". Hier beschäftigt er sich mit der Wendeeuphorie und der dann einsetzenden Enttäuschung. Da das ein kompliziertes Thema ist, braucht er halt seine 7:39... Das sind genau die Texte, die nur ein Mey schreiben kann. Bei der positiven Schlussnote bricht dann doch nochmal der unverbesserliche Optimist auf.
Auf "Lagebericht" kommt der dann nicht mehr zum Zug. Da zeichnet er dann für den 21.12.2042 genau den Lagebericht, den die "nicht mehr" Letzte Generation kommen sieht, den aber alle Politiker ignorieren. Auf "Misere mei" setzt er sich demonstrativ auf die Anklagebank der Tiere und seziert, wie unwürdig Massentierhaltung ist. Es ist aber nicht alles düster und politisch. Auf "Zwei Musketiere" schwelgt er mit leicht beschwinglich mit seinem alten Partner in Crime Hannes Wader in Erinnerungen. Und Liebeslieder kann er auch immer noch schreiben. 

Platz 14: Soko LiNX - Auf die Fresze. Fertig. Los!: Ja, eigentlich sollte das aktuelle Album "Blosz kein Stress" stehen. Aber das habe ich erst vor wenigen Tagen gekauft. Bei der Lebensfeier für meinen leider viel zu früh verstorbenen Kollegen Karsten Kriesel hatten die nur ihr Debütalbum dabei. Deswegen wird dieses Album immer einen besonderen Platz in meinem Schrank finden.
Das Debüt Album ist, im vergleich mit dem neueren Werk, Electro-lastiger. Aber im Kern immernoch Punk. Sie sind irgendwie der geistige Nachfolger von Supershirts "Punk ist, was du draus machst." Und sie haben einen konkreten Plan, wie man die Wirtschaft ankurbelt: "Vandalismus schafft Arbeitsplätze!" "Tu nicht, was du auch laszen kannst" ist ja mein eigentliches Lebensmotto. "Stiefmütterchen" war Karstens Lieblingslied und kickt deswegen live nochmal ganz anders. Und die jeweiligen Enden der "Muszichnich" Strophen (mit einem großartigen Gastbeitrag von Yetundey) sind herrlich.
Das neue Album ist dann weniger Elektro und mehr Punk... und wird hier dann nächstes Jahr auftauchen.

Platz 13: Rachel Chinouiri - What A Devestating Turn of Events: Der traditionelle Preis für die "Britische Newcomerin des Jahres " geht dieses ja an Rachel Chinouiri. Die orientiert sich aber weniger am Soul und Jazz, sondern an den Brit Pop Ikonen der 90er Jahre. Die Musik ist dementsprechend schneller und härter als der ihrer Vorgängerinnen. Es ist aber wesentlich poppiger als das 2. Album von Lola Young. Inhaltlich orientiert es sich aber schon an den schweren Themen, die auch eine Joy Crookes aufgreift: Rassismus, Armut und Depressionen Der Titeltrack beginnt mit einer harmlosen Romanze und endet in einer ungewollten Schwangerschaft und Selbstmord. In "Robbed" wird dann der Verlust zu früh von uns gegangenen Menschen verarbeitet. "It is, what it is, what it is is a problem." Es fasziniert mich immer wieder, wie die jungen Britinnen schon früh in ihren Karrieren diese heftigen Themen angehen. Aber natürlich kann Rachel auf "All I ever asked" auch ganz entspannt über gebrochene Herzen singen.

Platz 12: Dominique Fils-Aimé - Our Roots run deep: Letztens hatte ich ein interessantes Gespräch mit meiner Kollegin. Die frage mich, wie ich überhaupt neue Musik kennenlerne, wenn ich Spotify und dessen Algorithmus nicht nutze. Denn das ist ja echt gut, um sich neue Musik vorschlagen zu lassen. Meine Antwort war: "Ich gehe halt auf Konzerte und gucke mir da alles an. Wenn es mir gefällt, kaufe ich die Platte." Sie dann so ungefähr: Aber das ist ja total begrenzt auf Leipzig und vielleicht noch Hamburg. Das engt dich doch total ein. Ich so: Ich gehe halt ein mal im Jahr aufs Reeperbahn-Festival, da kommt Musik aus der ganzen Welt vorbei. Da finde ich jedes Jahr mindestens eine Kanadierin, die ich mir hinterher zulegen muss. Letztes Jahr war das Storry. Dieses Jahr geht der Titel "Candadian of the Year" an Dominique Fils-Aimé. (Platz 2 geht an Baby Rose). Die Frau pendelt zwischen klassischer Soul und Jazz Musik. Her roots indeed run deep. Sie nutzt ihre Stimme (auch live über den Looper) oftmals auch als Sample und Rhythmusinstrument. Dazu kommt dann noch minimal Instrumentierung. Dass die Trompete sich wirklich in den Vordergrund schleicht, bleibt auf "Give me a reason" die Ausnahme. Aber die Stimme ist auch gut genug, um das herzugeben. Inhaltlich versucht sie, trotz der schwierigen Zeiten und großen Probleme, Hoffnung und Optimismus zu verbreiten.
Fils-Aimé ist dabei aber keine junges, aufstrebendes Talent, sondern dies soll der Auftakt ihrer 2. Trilogie sein. Vielleicht hätte mir Spotify das schon vor 10 Jahren vorgeschlagen... aber alles zu seiner Zeit.

Platz 11: Mine - Baum: Da muss ich erstmal zugeben, dass ich Mine tatsächlich Jahrelang unterschätzt habe. Also klar, dass die "gut" ist, stand immer fest. Einen einzigartigen Sound, den man auf den ersten Takt erkennt. Eine richtig fette Produktion, mit der in Deutschland sonst keiner mithalten kann. Kreative Texte mit vielen Ebenen... all das waren Dinge, die mir bereits bewusst waren. Aber wie verdammt gut die Gesangsstimme eigentlich ist, fiel mir erst beim Live-Konzert auf... Warum habe ich die letzten Touren eigentlich ausgelassen? (Spoiler: Weil die schon ausverkauft waren, als ich mich drum gekümmert hat.)
Auf Baum beschäftigt sich Mine mit den essenziellen Fragen des Lebens... also mit dem Tod der eigenen Mutter, welcher die Perspektive aufs Leben verändert, auch wenn man "selber Mama" ist. Das gibt dem Album eine größere Tragweite, aber auch eine gewisse Schwere. Aber fest steht: Das ist eine großartige Künstlerin.

Platz 10: Monsters of Liedermaching - Federwisch im Elfental: Die wohl bekloppteste Band des Landes. Theoretisch sind das ja nur 6 Liedermacher, die sich gemeinsam auf die Bühne setzen und ihre Lieder spielen. Und diese Live-Aufnahmen werden dann mitgeschnitten und auf Alben gepresst. Das funktioniert seit über 2 Dekaden. In diesen 20 Jahren war man nur ein einziges Mal im Studio. Diese Konzerte sind dann nicht die entspannten Liedermacher-Abende sondern enden im "Sitz Pogo" und in Saufgelagen. "Glücklich und besoffen sein" halt. Und nach all den Jahrzehnten haben die Jungs auch endlich das "Prädikat Punk"... dank einer veganen Bulette. "Die Hamstereinkäufe schämen sich für dich" ist die vielleicht beste Aufarbeitung der Pandemie...

Platz 9: Moop Mama x Alice - Wieder Laut: In den 7 Jahren seit dem großartigen "Ich" Album hat sich bei Moop Mama einiges getan. Das offensichtlichste ist, dass sich Keno als Stimme verabschiedet hat, aber auch an den Bläsern hörten einige auf. Unter anderem Marcus Kesselbauer, der für die Arrangements verantwortlich war. Das sind schon krasse Veränderungen, insofern ist es nachvollziehbar, dass auf "Alles am Weg" erstmal die Frage geklärt wird, wie es überhaupt weitergehen soll und kann. Technisch gesehen sind das hier auch 2 nacheinander entstandene EPs und nicht ein Album. Deswegen endet die erste Vinyl auch mit einem "Outro". Teil 1 merkt man noch an, dass sich die neue Konstellation erst noch finden muss. Aber das war ja bei Keno auch nicht anders. Aber auch auf dieser Platte finden sich mit "Bildet Banden" und "Taub" schon echte Bretter. "Ich hab ein Recht auf Bassmassage!" Und Bässe können die Bläser von Moop Mama halt wie kaum eine andere Band.
Auf der 2. Vinyl fühlt sich gerade die Sängerin Alice wesentlich wohler. Das merkt man am deutlichsten beim Chorus von "NPC" und dem Call and Response Strophen von "Ich halt das nicht mehr aus", die gerade Live extrem gut wirken. "Nie wieder" fängt mit dem ehrlichen Eingeständnis an, dass man eigentlich keinen Bock drauf hat, auch ein politisches Lied zu spielen... ist nie wieder schon wieder viel zu nah. Ein viel versprechender Start in eine neue Moop Mama Ära.

Platz 8: Brother Ali & Unjust - Love & Service: Brother Ali ist technisch immer noch absurd gut. Kaum jemand bringt komplexe Themen so konkret auf den Takt, ohne auch nur ein Mal einen Reim zu erzwingen. Das Grundprinzip bleibt weiterhin: "Like give me three minutes and twenty seconds and here's my highs lows joys woes and any pent-up fears." "If it ain’t joy and pain it ain't eligible." "The Collapse" erinnert uns daran, dass wir ganz viel Elend auf der Erde einfach ignorieren und weitertanzen. Als bekennender Muslim nimmt Ali sich aber die Freiheit, sich dabei klar gegen die Politik Netanjahus zu positionieren. Überhaupt ist dieses Album, noch mehr als seine Vorgängerwerke, vom Islam geprägt. Was Ali im aufwändig gestalteten Artwork auch selber anspricht. Genauso wie den Fakt, dass nicht er in "Cadillac" flucht, sondern der Polizist, den er in dem Song zitiert. In dem Song erzählt er, dass sein Stiefvater und er aus dessen Auto gezogen, weil sie Schwarz sind und eine Waffe im Auto vermutet... obwohl Ali ja Albino ist. Während Ali panische Angst hatte, dass er erschossen wird, nimmt sein Vater das eher gelassen hin, weil er das halt auch nicht zum ersten Mal erlebt. Dass man solche Geschichten einfach ertragen und niemanden damit belasten sollte.
Soundtechnisch bewegt sich das Album, wie schon auf Secret & Escapes, weiter weg von dem klaren und hellen Sound von Ant und hin zu dem dumpferen MF Doom-esquen Klang. Für mich als Ant-Groupie ist das immer noch gewöhnungsbedürftig. Es ist ein Album, für das man sich verdammt viel Zeit nehmen muss, aber diese Zeit hat es definitiv verdient.

Platz 7: Max & Joy - Alles Liebe: Falls noch irgendjemand einen Beweis braucht, dass die beiden die Deutsche Version von Jay-Z und Beyoncé sind, liefern die beiden ihre Version von "Everything is love" ab. Und nennen das dann auch noch "Alles Liebe." Max ist eigentlich viel zu gut, um nur noch als Teilzeitrapper aktiv zu sein. Joy ist immer noch die beste Gesangsstimme. Zusammen verarbeiten sie jetzt ihre nicht immer ganz einfache Beziehung. Es ist quasi "Das Wenigste" auf Albumlänge. Und die beiden sind halt verdammt gut. Sie spielen dabei immer wieder mit ihrem größten Hit. Sei es als Querreferenz auf "Ein bisschen mehr als Freundschaft" oder indem sie die Geschichte hinter dieser Pop-Hymne erzählen. Aber auch die Tiefpunkte mit der Zwischenzeitlichen Trennung werden auf 35 Missed Calls aufgearbeitet. Und dazu gibt es natürlich ganz ganz viele Songs, auf denen die beiden einfach nur froh sind, dass sie wieder zusammen sind. Und wie bescheiden es ist, dass die beiden sich trennen müssen, wenn Joy mal wieder auf Tour geht... Denn genau genommen ist Joy mittlerweile die Alphamusikerin der Familie. Sie ist wesentlich aktiver und während Max zumindest Live immer wieder mal die Luft ausgeht, ist sie auch dort noch auf absoluten Spitzenniveau. Trotzdem wird sie auf der nächsten Tour ohne ihren Mann wieder die kleineren Hallen bespielen. So funktioniert unsere Welt halt.
Das Album ist deswegen so gut, weil es so erwachsen ist. Es ist keine naive Glorifizierung der großen Liebe ist, sondern eine realistische Abbildung aller Höhen und Tiefen. Und "Mmina Tau" ist, auch wenn es thematisch nicht so ganz zum Rest passt, ein positives Stimmung verbreitendes Brett.

Platz 6: Kapelle Petra - Hamm: Die wollen ein "mittelmäßiges Leben" führen? Die liefern ein mittelmäßiges Album ab. Bei der Kapelle heißt Mittelmaß aber immer noch: Verdammt gut. Wobei man das kurz eingrenzen muss: Dass "Frühwerk" vor Internationale Hits ist schon anstrengend. Wobei... Aber seit dem die mein Lebensmotto "Geht mehr auf Konzerte" gemacht haben, liefern die nur noch großartige Alben ab. Die Jungs haben die wunderbare Gabe, einfache Geschichten anhand absurder Bilder zu zeichnen. Praktisches Beispiel: Ein Sommerhymne an den "Freibad Pommes" aufzuziehen. Ein Gedicht in Rot und Weiß. "Es war nicht alles schlecht früher" kommt mit dem "Das meiste ist es immer noch" Konter. Und endet mit einer "Deine Schuld" Referenz. Denn es ist ja egal, ob früher alles besser oder schlechter war, wichtig ist, dass wir in der Gegenwart etwas verändern. "Alle dumm! außer ich" endet mit der offensichtlichen Frage "Warum mag man mich trotzdem nicht? "Keine Lieder für böse Menschen" ist dann ihre Abrechnung mit all den unangenehmen Gestalten, die während und nach der Pandemie so zum Vorschein kommen... und der freundlichen Ansage nicht auf ihre Konzerte zu kommen.
Das Album ist kein revolutionäres Werk. Kapelle Petra haben ihre Nische gefunden und fühlen sich dort sehr wohl. Wenn man die anderen Alben feiert, mag man auch dieses hier. Ist doch gut, dass die damals in der Schule gepennt haben.

Platz 5: Spilif - irgendetwas das du liebst: 3 Jahre nach der Debüt-EP mit Rudi Montaire kam Ende 2023 endlich das Album. Und weil ich oftmals etwas länger brauche, kommt es erst dieses Jahr in die Charts. Seitdem ich die Frau das erste Mal auf dem Reeperbahnfestival gesehen habe, hat sich einiges getan. Vor allem fühlt sie sich mittlerweile sichtlich wohler mit der Live-Band im Rücken und auf Band. Auch wenn der Sound weiterhin straight Rap ist. Die Leichtigkeit, mit der Spilif über den Takt fließt, ist faszinierend. Die Texte strahlen einen eher melancholischen, introvertierten Vibe aus. "Wie retroperspektiv wird der Abend sein, wenn der Wein wieder fließt?" Im Titeltrack heißt es dann "Auf der Suche nach dem Sinn sind Nihilisten nie." Sie nennt sich selbst poetisch... und ein "rebellischer Hippie". Spilif ist Österreichs größte Raphoffnung.

Platz 4: Curse - Unzerstörbarer Sommer: Ist Curse der Beste Rapper des Landes? Auf jeden Fall der langlebigste. Es gibt halt kaum jemanden, der 2000 schon tight war und immer noch großartig ist. Dave P von Main Concept vielleicht, aber der kommt als Teilzeitarbeiter "Nur" auf 6 Albem... Und Curse kann von sich behapten, dass er zwischenzeitlich mal ein Popstar war, ohne sich irgendwie zu verkaufen. Können andere MCs auch ähnlich gut flown? Bestimmt. Kool Savas existiert immernoch. Zerlegen auch andere Live ganzen Laden und rappen 2 Stunden ohne Back Up MC durch? Milli Dance kommt nächstes Jahr zurück. Aber all das in einer Person? Kann eigentlich nur Curse. Das beginnt schon mit "Der Stimme." Wenn man er eine einzigartige, markante und prägende Stimme hat, kann man so halt das Album eröffnen. Aber Curse bricht am Ende bei "Die Stimme gehört nur einer Person und die heißt:" das Reimschema: Anstatt mit seinem eigenen Namen zu enden, kommt da ein "Du." "1994" malt das Bild dieses einen perfekten Jugendsommers, den wir alle erlebt haben und hinterher gerne verklären. Und klar, das hat Bryan Adams schon gemacht... aber Rap als Medium gibt Curse halt die Möglichkeit, mehr erlebten Bullshit in den Text zu packen. "Annuaki Flow" halt uns den Spiegel vors Gesicht und verdeutlicht, wie viele Dinge wir aus Bequemlichkeit ertragen. Und "Überdosistee" ist einfach nur absurd gut. Wie er in der ersten Strophe einfach Momente, in denen das lyrische Ich sterben könnte. Nur weil man gut versichert ist, hat das Leben nicht nen Sicherheitsgurt. In Strophe 2 geht er dann Global. Er schafft es dann, weil er sich auf Einzelbeispiele bezieht, das Ende einer jungen unschuldigen Jüdin und eines Kindes aus Gaza gegenüberzustellen... und das so neutral und brutal, dass er in keinster Weise eine moralische Stellung zu den Parteien bezieht, sondern einfach nur festhält, dass Krieg Scheiße ist. Ganz großes Kino.
Mein Lieblingsdetail: 20 Jahre nach "Vielleicht ist auch mein Herz nach dir vor Kälte erfriert" gibt Curse selber zu, dass es eigentlich erfroren heißt. In "Avocado Toast" beschreibt er, dass er mittlerweile wesentlich weniger braucht, als er vor 20 Jahren gedacht hat, um zufrieden zu sein... aber dass er damit auch verdammt zufrieden ist.
Da sind wir nebenbei auch noch nur beim Album. Er hat nebenbei noch ne EP released, für die er die Legenden Aphroe, Cora E. und die Stieber Twins motiviert hat. Und wie die sich die Querreferenzen hin und her werfen, ist einfach großartig. Da merkt man, dass die wirklich die Musik des jeweils anderen feiern.

Platz 3: Enno Bunger - Der beste Verlierer: Ich bin ja heimlich doch Clueso Fan. Also ich höre sehr gerne gute deutsche Texte auf ordentlich ausproduzierter Musik... und das läuft bei der GEMA unter Popmusik. Meine persönlcihe Sonderkategorie heißt: Cluesoig. Enno Bunger ist verdammt cluesoig. Aber ist halt auch die Antwort auf die Frage: Wie wäre es, wenn Clueso richtig viel Inhalt in seine Texte packt. Denn Enno Bunger macht auf den ersten Blick sehr seichte Popmusik, bis man dann auf die Texte hört. Dass ich ihn also nicht mit Dota, sondern mit Clueso vergleiche, ist reiner Sexismus... Der "Weltuntergang" hat uns ja gerade noch gefehlt. Auf "Einfache Leute" heißt es dann "Ich muss durch den Konsum". "Kritik am Kapitalismus, verkauft sich eben schlecht" ist der ultimative Aufdruck für einen Einkaufsbeutel... und dementsprechend ein Pflichtkauf. "Menschenwürde im Konjunktiv, ist das wonach wir streben,." "Ich sehe was, was du nicht siehst" ist eine dieser wunderbaren Depressionshymnen, die man nur wirklich versteht, wenn man daran leidet. Der Rest denkt sich so "Cool, dass du das mal ansprichst." Obwohl die Texte grundlegend von einer Melancholie getragen werden, versucht Enno Bunger trotzdem immer auf einen positiven Abschluss zu finden. Nirgends wird das so deutlich, wie auf "vielleicht morgen, heute nicht!" Sprachlich ist das alles auf einem unfassbar hohem Niveau. Inhaltlich trifft es meinen linksgrünversiften Nerv. Damit ist es für mich die perfekte Kombination.

Platz 2: Beyoncé - Act ii Cowboy Carter: Wie, nicht auf Platz 1? Will da jemand den Beyhive triggern? Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Dies ist das schlechteste Beyoncé Solo Album aller Zeiten. Und sie kann es nicht mal auf Jay-Z schieben... Nun ist "das Schlechteste" immernoch überragend. Es wäre aus meiner Perspektive pure Ironie, wenn sie ausgerechnet dafür ihren Grammy für das Album des Jahres bekommt, den sie seit einem Jahrzehnt verdient hat.
Das lustigste an dem Album: Nachdem sich bei Act I alle gefragt haben, wo die Stimme hin ist, haut sie als Leadsingle "16 Carriages" raus. Und "Blackbiird" mit einigen jüngeren, schwarzen Countrysängerinnen. Act I war einfach nicht das Album für die Stimme, sondern für den Dancefloor, aber die ist noch da. Auch wenn sie nach 2 komplizierten Schwangerschaften nicht mehr an die ganz hohen Töne von "Ave Maria" oder "Halo" rankommt und letzteres aus dem Live-Set streichen musste. Sie ist halt doch nur ein Mensch.
Aporpos Dancefloor: Das ausgerechnet "Texas Hold Em" der Song werden würde, den man dann doch wieder im Club spielt, verwirrt mich. Also so, wie "Break my Soul" die ganzen Partygänger verwirrt hat. Nicht, weil der Song schlecht ist, das ist schon ein Brett. Aber zumindest die DJs in meinem Umfeld haben 20 Jahre lang fast ausschließlich "Single Ladies" und "Crazy in Love" gespielt, weil die Gäste mit "Countdown" überfordert waren. Wenn ihr wissen nebenbei wollt, wie großartig die Stimme immernoch ist: Es gibt eine Acapella Version, auf der man dann erkennt, was sie da alles macht.
Wie schon auf Act I leidet das Album für mich aber unter einigen Längen. Ältere Beyoncé Alben waren einfach kompakter. Aber wenn man sich ein Album lang Zeit nimmt, um sich in diesem Fall mit dem Country Genre auseinanderzusetzen, dann muss das Album halt 80 Minuten lang sein.
Die wirklich Highlights, neben den angesprochenen Powerballaden, sind für mich aber "Ya Ya" und "Spaghettii". Also die Songs, bei denen B einfach das gesamte Genre Konzept über den Haufen schmeißt, auf alle scheißt und komplett durchdreht. Jetzt warten wir alle auf den 14.01. und fragen uns, ob es eine Welttournee oder "nur" Act III geben wird. Oder halt einfach ein neues Parfum... Es wirkt jedenfalls nicht so, als würde die Frau den Fuß vom Gas nehmen wollen. Gut für alle, die auf gute Musik stehen.

Platz 1: Sarah Lesch - Gute Nachrichten: Während Beyoncé mit einem "Country Album" überrascht... schockt Sarah Lesch uns mit einem Punkrock Album. Ganz ehrlich, dass kollektive Aufatmen, als sie beim Live Auftritt nach 15 Minuten Rock Musik endlich mit "Testament" ein klassisches Lied spielt, war einer meiner Lieblings-Livemomente des Jahres. Was ihr Manager wohl davon hält... kann uns egal sein, denn es kann ja sein, dass der einfach ein Arschloch ist...
Das Wichtigste: Abgesehen vom Chorus von "Dey" nimmt sie sich sprachlich in keinem Moment zurück. Und kommt weiterhin mit klarer Kante und Haltung. Begonnen mit der Leadsingle "Nie Wieder", in dem sie explizit die ganzen Rechten, die ihre Songs auf den Demos gespielt haben, anzählt. Auch wenn sie damit eher "die Spaltung der Gesellschaft" vorantreibt. Wie kann sie nur in diese fairen und gerechten Welt.
Auch wenn das Album um einiges härter ist, als seine Vorgänger, bleibt am Ende festzuhalten: Wie besten Songs sind am Ende doch wieder die Liedermacher-Sachen. Auf "Der letzte Faschist" wird sogar die Mundharmonika wieder ausgegraben. "Dopamin" geht es am Ende um einer eher toxische Beziehung. "Kannst du die Blindeschrift entziffern, auf meiner Haut." In "Bitte nicht anfassen" um Streit und häusliche Gewalt. Und dann ist da noch "Wenn er nicht trinkt." Der beste Song. Also nicht nur des Albums, sondern des Jahres. Der Song behandelt ein massives Alkoholproblem und erzählt uns, wie schwer es ist, wenn man jemanden hat, der unter dieser Krankheit leidet. Herzzerreißend und brutal zugleich... und komplett ohne einem "Das wird schon irgendwie"... wird es nämlich nicht.