Oder Dinge tun, die man viel zu lange nicht mehr gemacht hat. Freunde treffen, die man seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hat. Einfach um mal zu gucken, was sich bei denen so getan hat.
Mein Freund, bei dem ich ein Mal im Jahr vorbeischaue, ist der Kicker. Hauptsächlich, weil das im Funkloch die einzige Möglichkeit ist, die Fußballergebnisse zu erfahren. Ernsthaft, wie schwer sich Bayer Leverkusen gegen Jena getan hat, habe ich erst am Freitag erfahren.
Ich habe ja jahrzehntelang den Kicker religiös gelesen, bis mir irgendwann aufgefallen ist, dass sie das "Fachmagazin" nicht nur aus dem Titel, sondern auch aus dem eigenen Anspruch gestrichen haben. Dass die sich immer komplett alle journalistischen Sicherungen rausknallen, wenn Deutschland spielt, war mir irgendwie immer bewusst, aber 2021 war es mir dann einfach zu viel. Jetzt habe ich mir aber die Ausgabe 70 geholt und am Strand gelesen. Und da gibt es einige interessante Episoden, die ich mit euch teilen will.
Als Erstes fand ich die brutale Ehrlichkeit im "business"-Interview mit Ilja Kaenzig wunderschön. Da wird halt über die wirtschaftliche Situation des VfL Bochums geredet. Da geht es dann auch um die Frage, inwieweit man in der 4. Bundesligasaison bereits ein etabliertes Mitglied der Liga ist. Und dann erwähnt Kaenzig, dass man ja auch verdammt viel Glück gehabt hat, weil entsprechend kleine Vereine aufgestiegen sind. Und dann geht es um Mannschaften, die potenziell von unten kommen und den Bochumern das Leben schwer machen könnten. Zitat: "Wenn Fürth, Paderborn oder Darmstadt hochgeht, haben wir einen Puffer. Wenn es der 1. FC Nürnberg ist, Hannover 96 oder der Karlsruher SC, der richtig boomt, also Klubs mit großen Stadien und großer Anziehungskraft, dann sind die direkt auf Augenhöhe mit uns, obwohl wir bereits vier Jahre oben sind. Da reden wir noch nicht von Schalke, Hertha BSC oder dem 1. FC Köln."
Ich schwöre, dass das nicht editiert ist. Kaenzig zählt 9 Mannschaften auf, deren Aufstieg er anscheinend für realistisch hält. Eine dieser Mannschaften ist gerade 17. und hat bereits Thorsten Lieberknecht entlassen. Der eine Name, der nicht fällt, ist der Hamburger SV. Kaenzig hat einfach begriffen, dass ein Aufstieg der Hamburger absolut unrealistisch ist.
Unterschwellig bringt dieses Interview aber eine andere Wahrheit ans Licht: Die Qualität in der Liga muss verdammt stark nachgelassen haben. Die wirtschaftliche Kraft einiger Traditionsvereine wurde halt durch Heidenheim und St. Pauli ersetzt. St. Pauli kann auf dem Transfermarkt einfach nicht so agieren, wie der 1. FC Köln das könnte... also, wenn die denn dürften.
Mit dem Abstieg der Kölner spielen mittlerweile 4 Vereine, die wirtschaftlich in die Top 10 gehören sollten, in der 2. Liga. Das ist unfassbar viel Potenzial, welches, bei allem Respekt, nicht durch all die Kompetenz in diesen Vereinen ausgeglichen werden kann.
An der Fieberkurve des VfLs kann man ja die Entwicklung der Bundesliga ganz gut nachvollziehen. Von 1972 bis 1993 galt man als "Unabsteigbar". Man steckte zwar verdammt häufig im Abstiegskampf, sicherte sich aber trotzdem jedes Mal irgendwie den Klassenerhalt. Die beste Platzierung in der herausragenden Saison war Platz 8. Mehr war einfach nicht drin.
Der erste Abstieg galt noch als Betriebsunfall. Doch nach dem 5. Abstieg konnte man nicht mehr ignorieren, dass man zur klassischen Fahrstuhlmannschaft geworden ist. Nach dem 6. Abstieg sah es plötzlich so aus, als hätte man den Anschluss zur Bundesliga endgültig verpasst. Man war plötzlich dichter an der dritten, als an der 2. Liga. Und natürlich gab es zwischenzeitlich diese eine Märchensaison unter Peter Neururer, in der man sich für den Europacup qualifiziert. Aber sachlich gesehen zeigte die Kurve der Bochumer 20 Jahre lang nach unten.
Bochum hat den Aufsprung auf den Kommerzialisierungszug, den Schalke und Dortmund so elegant genommen haben, dass die eigenen Fans es gar nicht bemerkt haben, verpasst. Sie haben ihn deutlich verpasst und wurden von Wolfsburg, Augsburg, Mainz, Freiburg, Hoffenheim und RB Leipzig links überholt.
Und plötzlich steht man wieder in seiner 4. Bundesligasaison infolge. Ganz sachlich gesehen sieht es, auch wenn die aktuelle Tabelle etwas anderes sagt, gar nicht soo schlecht in Sachen Klassenerhalt aus, schließlich muss man "nur" Kiel und St. Pauli hinter sich lassen, den Rest regelt die Relegation. Und selbst Heidenheim hat laut Transfermarkt.de einen günstigeren Kader...
Damit hat man zum ersten Mal seit dem Wiederaufstieg nicht einen der 2. (laut Marktwert) schwächsten Kader der Bundesliga. Das gab es seit 2008/09 nicht mehr. Aber hier kommt das ganz große Problem: Der Marktwert des Bochumer Kaders ist, während man von Rang 17 auf Rang 15 gesprungen ist, von 64,53 Millionen auf 59,7 Millionen Euro gesunken.
Hier muss man natürlich einschieben, dass der Marktwert zu Saisonende mit dem Marktwert zu Saisonbeginn verglichen wird. Also ein Jan-Niklas Beste hat seinen Marktwert verdoppelt. Heidenheim wird zu Saisonbeginn 2023 keinen teureren Kader gehabt haben, als die Bochumer.
Aber die Bochumer sind halt auch nicht an den Heidenheimern "vorbeigezogen", weil sie sich verbessert haben, sondern weil der Substanzverlust dort noch größer war, als in den eigenen Reihen.
Das ist auch etwas, was allgemein bedacht werden muss: Die Bochumer haben sich jetzt nicht wieder etabliert, weil sie groß investiert haben. Sie haben dies geschafft, während sie einen Konsolidierungskurs fahren mussten.
Dass die Bochumer jetzt da sind, wo sie sind, hat, bei allem Respekt vor der herausragenden Arbeit, die da geleistet wird, auch mit den katastrophalen Vorstellungen der eigentlich enteilten Konkurrenz zu tun. Sie können nur dort sein, wo sie jetzt sind, weil die Liga deutlich schwächer geworden ist.
Dass die Liga zumindest in der unteren Tabellenhälfte deutlich schwächer geworden ist, darf man aber so nicht sagen, weil es dem hochpolierten Image der Liga schaden würde. Deswegen wird das indirekt auf Seite 82 angeschnitten, aber nicht vernünftig ausgeführt.
Denn vernünftige Analysen bekommt man halt nur in einem Fachmagazin und nicht im Kicker.
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