Mittwoch, 10. Juli 2024

Gareth Southgate ist ein Genie

 Und dieses Mal meine ich das sogar ernst. Aber zunächst:

Didier Deschamps: Der so "Ich habe euch gesagt: Lasst das! Jetzt seht ihr ja, was ihr davon habt!" Was ist "das"? Ein Tor aus dem Spiel heraus erzielen. Es ist schon lustig, dass Frankreich nach den besten 15 Minuten des Turniers raus ist.
Genauso lustig ist es, dass ja alle ein gutes Spiel gesehen haben wollen... Also ja, es war deutlich besser als erwartet, weil meine Erwartung ja ein absoluter Gurkenkick und ein Eigentor der Spanier war. Aber genau genommen waren nur die ersten 25 Minuten wirklich gut. Denn als Lamine Yamal auffiel, dass ihm langsam die Zeit wegläuft und er schon zeitnah treffen muss, wenn er noch als 16-Jähriger treffen will, packte er ein Gemälde von einem Treffer aus. Und Toni Kroos werden sie in Spanien noch eine Statue bauen, weil er ihnen Dani Olmo beschert hat... Sonst hat der ja nichts geleistet und nur Querpässe für Real Madrid gespielt, aber dieser eine Tritt war schon großartig...

Aber nach 25 Minuten fiel den Spaniern auf, dass jetzt ja die Franzosen was machen müssen. Und den Franzosen fiel auf, dass sie das trotz überragender Einzelkönner nicht wirklich können.

Hier ist eine Liste aller Paraden, die Unai Simon in der 2. Halbzeit zeigen musste:

In der 53. Minute bringt "Dembelé die Ecke scharf vor den Fünfmeterraum, wo sich Tchouameni durchsetzt, den Ball aber in Unai Simons Arme köpft."
Simon muss sich dafür nicht bewegen. Danach schießt Kylian Mbappé laut ZDF Zusammenfassung aus so spitzem Winkel, dass Simon sich wieder nicht bewegen muss. Den Schuss zeigen die als Highlight, obwohl er es nicht mal in den Kicker-Ticker geschafft hat.
Dembelé versucht in Minute 60 ein Eigentor zu erzwingen, in dem er einen Abschluss aus der Karegorie "Halb Schuss, Halb Flanke" bringt. 

Und das war's dann... die restlichen Abschlussversuche kamen aus dem "Wir schießen lieber drüber und vorbei" Lehrbuch von Paris St. Germain. Mein absolutes Highlight war die Einwechslung von Olivier Giroud: Einem Stürmer, der ohne eigenen Torschuss Weltmeister geworden ist. Ein Superspieler... wenn es darum geht, das Ergebnis zu halten.  Aber mit 37 nicht mehr der Mann, der bei einer EM für Gefahr sorgt.

Ab Minute 26 war es genau der Grottenkick, den ich vorher erwartet habe. Nur mit einem überraschenden Ausgang. Da erkennt man nebenbei den persönlichen Vorteil, wenn man das schlimmstmögliche Szenario vorher ausmalt: Jetzt kann ich sagen "Zum Glück ist meiner Vorhersage nicht eingetroffen"...

Jetzt aber das andere Realgenie: Alfie von HITC Sevens hat ein Video mit einer überraschenden Erkenntnis veröffentlicht: Die Engländer sind plötzlich gut im Elfmeterschießen! Vorher gewannen sie nur eins von 7, unter Southgate sind es 3 von 4. Und in dem Video wird im Detail erklärt, wie viel Arbeit Southgate in diese Elfmeter gesteckt hat. Es ist keinesfalls Zufall, sondern verdammt viel Strategie. Nicht nur, weil Jordan Pickford alle Schützen auf der Flasche hat. Das Video erklärt im Detail, wie wichtig es ist, dass der Ball nicht länger als 8 Sekunden auf dem Punkt liegt und dass Pickford es mit an sich verbotenen Provokationen und viel Zeitspiel geschafft hat, dass der erste Schütze Akanji diese 8 Sekunden weit überschritten hat. Akanjis Elfmeter war der schwächste und wurde dementsprechend gehalten. Danach wurden die Provokationen vom Schiedsrichter, der Pickford mit einer Verwarnung drohte, unterbunden und alle anderen Schweizer trafen souverän. Da alle Engländer eben auch souverän trafen, war das Kind bereits in den Brunnen gefallen.

Beides war kein Zufall. Eines der interessantesten Details ist, dass Southgate ein "Buddy-System" eingeführt hat: Den 5 Schützen wird jeweils ein Kumpel zur Seite gestellt, damit sie nicht alleine mit ihren Gedanken sind. Es ist schon faszinierend, wie gut durch choreografiert alle Elfmeter der Engländer waren.

Und nebenbei hat Southgate aus dieser Mannschaft eine verschworene Einheit geformt. Was bei all den Egos und Premiere League Rivalitäten keine Selbstverständlichkeit ist. Also die größte Enttäuschung aller goldenen Generationen der Weltgeschichte sind ja die Engländer von 1998 bis 2008. Ich nenne das mal "Die Beckham Jahre". Ein Spieler, der an sich eine viel zu gute Schusstechnik hatte, um so legendär schlechte Elfmeter zu schießen. Aber das größte Problem dieser Generation war ja, dass die drei besten Mittelfeldspieler Steven Gerrard, Frank Lampard und Paul Scholes nie zueinander gefunden haben. Waren die sich zu ähnlich? Vielleicht. Aber es hatte auch keiner der 3 wirklich Interesse daran, im Sinne der Mannschaft zurückstecken und eine angepasste Rolle zu übernehmen.

Und Southgate war ja damals dabei, als eine überaus talentierte Generation ihr Potenzial sinnlos verschwendete. Er hat es irgendwie geschafft, dass die Engländer eine verschworene Einheit geworden sind und dass sie ihre Dämonen vom Punkt überwunden haben. Man hört keinerlei Murren der Nicht-Einwechselspieler, obwohl die wahrscheinlich denken, dass sie auch nicht schlechter spielen würden, als die Startelf. Man schießt lieber gegen die jammernden Medien, als den eigenen Trainer zu hinterfragen.

Oder nehmen wir Harry Kane: Anstatt sich über die destruktive Spielweise aufzuregen und sich hängenzulassen, arbeitet der Mann gegen die Schweiz am eigenen Strafraum am 0:0. Kane ist offensichtlich nicht fit. Und er leidet am meisten unter der Spielanlage der Engländer. Aber er ist sich trotzdem nicht zu schade, das taktische Foul auszupacken, wenn es verlangt wird. Oder am eigenen Strafraum konsequent mitzuarbeiten.

Dazu kamen immer die legendären Undiszipliniertheiten. Man konnte ja vorher schon davon ausgehen, dass irgendein Engländer wegen irgendeiner Dummheit vom Platz gestellt wird.  Ein Jude Bellingham fasst sich nur an die eigenen Kronjuwelen und tritt nicht in die von Cristiano Ronaldo.

Und in der Summe ist dies verdammt erfolgreich. Eine Nation, die immer wieder an Egos und am Elfmeterschießen scheiterte. All diese chronischen Probleme hat Southgate beseitigt. Lässt er auf dem Platz einen grausamen Pragmatismus walten? Ja, klar. Was die Engländer spielen, verstößt gegen die Genfer Konvention.
Aber der Mann steht in seinem 3. Halbfinale. Und 2022 scheiterte er als bessere Mannschaft im Viertelfinale an Frankreich. Danach hat er sich gedacht: Das passiert mir nie wieder. Mit dieser Bilanz kann sich kein anderer englischer Trainer messen. Und auch kaum jemand sonst in Europa, jenseits von den absurd verwöhnten Deutschen. Fun Fact: Hier sind die Halbfinalteilnahmen ohne Southgate: WM 1966, EM 1968 und die WM 1990. Southgate war 1996 als Spieler dabei. Und 2018, 21 und 24 als Trainer. Der kommt also auf 4 Halbfinalteilnahmen, während ganz England ohne ihn auf 3 kommt.

Das einzige, was man Southgate vorwerfen kann, ist sein eiskalter Pragmatismus auf dem Platz. Der bevorzugt halt einen Spielstil, der sicherstellt, dass die eigenen Spieler im Elfmeterschießen noch frisch sind. Der hat wahrscheinlich José Mourinhos Biografie studiert. Und er ist wahrscheinlich auf taktischer Ebene kein guter Trainer. Dass er Sancho und Rashford nicht 10 Minuten früher eingewechselt hat, bleibt eine strategische Katastrophe, denn die Elfmeter hätten sie auch mit 10 Minuten in den Beinen schießen können. Aber... er hat Trent Alexander-Arnold dieses Mal in der 115. gebracht. Man kann also selbst da gewisse Fortschritte erkennen. Und ja, der Mann hatte vor dem Elfmeterschießen 6 Ballkontakte und 5 gespielte Pässe als Arbeitsnachweis und verwandelte dann seinen Elfmeter souverän.

Vor allem ist er anscheinend auf der menschlichen und der disziplinarischen Ebene überragend. Und Europameisterschaften werden meistens auf genau dieser Ebene entschieden. Meine pessimistische Prognose ist ja: Die Engländer werden Southgate vermissen, wenn sie in 2 Jahren nach einem absurden 2:3 Spektakel im Achtelfinale ausscheiden...

1 Kommentar:

  1. All die positiven Dinge die du Southgate hier nicht ganz zu unrecht zuschreibst sind aber eben nur ein Teil der Miete. Es gab auch gestern wieder kaum Konzepte zu sehen ...z.B. wie man sich nach Ballverlust wieder sortiert etc. Nur den Bus zu parken um einen Titel zu gewinnen hat auf diesem Niveau das letzte Mal 2010 in der CL bei Inter funktioniert.

    Es scheint so zu sein als wäre Southgate ein sehr guter Teamleader ohne als Trainer auch nur gehobenes Niveau darzustellen. Er ist quasi wie Jogi, nur ohne Hansi ...und das reicht am Ende eben nicht.

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