Donnerstag, 11. Mai 2023

Abstiegskampf ist so absurd - Eine Fallstudie

 Was einem besonders auffällt, wenn man wirklich hinguckt.

Und an der Stelle fällt mir halt auch wieder auf: Ich gucke relativ wenig Fußball live. Vor allem verfolge ich selten einen einzelnen Verein über mehrere Spiele am Stück. So fallen mir halt nur die mega offensichtlichen Dinge wie Paris St. Germains planloses Pressing auf, wenn ich direkt danach Arsenal London gegen Manchester City gucke. Also wie krass das Problem ist, fällt mir nur deswegen auf.

Aber der eine Verein, den ich in der Rückrunde wirklich verfolgt habe, ist halt Hansa Rostock. Einfach nur, weil ich gebürtiger Rostocker bin und weiß, was der Verein für die Region bedeutet. Und Hansas Saison könnte, egal wie sie ausgeht, halt ein Lehrbuchbeispiel für einen "ganz normalen Abstiegskampf sein".

Zunächst mal sah alles gut aus, bis man die Trainerlegende Jens Härtel entlassen hat. Und ja, den als Legende zu bezeichnen, ist keine Übertreibung, schließlich war er der erste Trainer seit Frank Pagelsdorf, der eine Vertragsverlängerung angeboten bekommen hat. Das war 2008. 

Rostock ist halt ein chronischer Schleudersitz, mit der einzigen Konstante: Uwe Ehlers als Interimscoach. Und gerade, wenn man bedenkt, dass man Steffen Baumgart als Co-Trainer hatte, sich aber für Ehlers als Interimscoach entschied...

Man hat in den Jahren halt auch alles ausprobiert: Vereinslegenden wie Juri Schlünz befördern. Drittligaveteranen wie Pavel Dotchev oder Peter Vollmann verpflichten. Den Jahrgangsbesten Karsten Baumann holen. Einen Christian Brand, der ein überzeugendes Spiel gegen die Bayern gemacht hat, installieren. Unbeschriebene Blätter von Reservemannschaften der Bundesliga wie Dirk Lottner eine Chance zu geben. Und natürlich entschied man sich immer genau für die Variante, die nicht funktionierte... bis man einfach mal einen Aufstiegscoach von einem anderen ehemaligen DDR-Oberliga-Verein holte.

Dann entließ man Härtel aber in einer relativ luxuriösen Position. Also klar, es war ein deutlicher Abwärtstrend zu sehen, der in einer Heimniederlage beim Tabellenletzten Sandhausen mündete, aber im Großen und Ganzen war man mit 17 Punkten aus 15 Spielen und Tabellenplatz 12 voll im Soll.

Trotzdem dachte ich mir: Vielleicht hat sich Härtel einfach abgenutzt und wahrscheinlich ist "Tabellenkeller in der 2. Liga" auch sein realistisches Limit. Und vor allem setzte man mit Patrick Glöckner auf eine kreative Lösung, anstatt einfach nur einen Retter zu holen und im nächsten Herbst nach dem nächsten Retter zu suchen. In einem stabileren Umfeld wird der diese Mannschaft schon entwickeln können... Copium nennt man das auf Neudeutsch.

Denn Glöckner führte diese Mannschaft souverän in den Abstiegskampf. Also sie nahmen den dann schon wörtlich. Also ja, es gab einen kurzen Dead Coach Bounce, aber es gab auch nur einen Sieg nach 8 Rückrundenspielen. Und vor allem dachte ich mir beim Zugucken immer wieder: So schlecht waren die doch vorher nicht.

Also doch einen Retter verpflichten: Alois Schwartz kommt praktisch vom direkten Konkurrenten aus Sandhausen. Es ist seine 5. Zweitligastation. Sein einziger Erfolg war das Erreichen der Relegation gegen den Hamburger SV. Aber gerade verglichen ist es halt eher eine uninspirierte und kurzfristige Lösung: Hauptsache Klasse halten.

Aber auch unter Schwartz änderte sich praktisch nichts, er setzte die Niederlagenserie konsequent fort. Plötzlich stand man auf einem direkten Abstiegsplatz. Und vor allem war man in der Offensive viel zu schlecht. In 7 von 11 Rückrundenspielen blieb man ohne eigenen Treffer. Im Februar erzielte man ein einziges Tor. Am berechnendsten für mich ja das 1:1 gegen Hannover. Also Hansa hatte in dem Moment 1 Tor in 6 Spielen erzielt, aber "dank Dressels Traumtor", welches auch direkt zum Tor des Monats nominiert wurde. Aber diese Szene fasst halt die Offensivbemühungen der Mannschaft perfekt zusammen: Der Gegner muss sich halt richtig dumm anstellen und dann muss auch noch alles passen, damit man mal ein Tor erzielt.

Wenn man das mit einer Verteidigung kombiniert, die nur ein einziges Mal zu 0 spielt, kommt halt Platz 17 raus. Und da man die Karte "Trainerwechsel" schon 2 Mal gezogen hat, sah es auch nicht so aus, als würde irgendjemand diese Mannschaft retten können...

Außer Kai Pröger. Also als Hansa in der Hinrunde noch vernünftig gespielt hat, war Pröger der beste Mann. Jetzt ist er es wieder. Wenn Pröger als Individualist nicht die Kurve bekommt, steht man mittlerweile auf Platz 18. Stattdessen sammelt er plötzlich 4 Scorerpunkte in 3 Spielen.
Also um das nochmal zu verdeutlichen: Wir reden immer noch von der Mannschaft, die vorher 8 Spiele gebraucht hat, um 4 Tore zu erzielen. Und Pröger stand dabei die ganze Zeit in der ersten Elf.

Und hier ist das wirklich faszinierende: Es ist nicht so, dass Hansa jetzt deutlich besser spielt, also vorher. Sie haben halt im Wesentlichen gegen Mannschaften, die nicht wirklich gefährlich angreifen, weitgehend souverän verteidigt. Und nach vorne ist es genau genommen immer noch grausam, was sie anbieten. Aber die Stimmung im Stadion war schon geil.

Also sie haben halt gegen Fürth mit einem Distanzschuss Marke "Tor des Monats" in Führung gegangen. Das dürfte da sogar der erste Torschuss von ihnen gewesen sein. Das 2:0 war dann der erste Abschluss im Strafraum. Gegen Kaiserslautern schießt man 2 Mal aus der 2. Reihe, macht aber faktisch auch das 1:0, als man das erste Mal in der gegnerischen Hälfte auftaucht. Und die Vorlage geht an Luthe, dem gegnerischen Torwart, der den ersten Fernschuss auf Pröger prallen lässt. Gegen Regensburg hätte Hinterseer den Abschluss suchen können, geht aber lieber auf den Elfmeter. Pröger macht das besser und netzt mit dem ersten Schuss aufs Tor direkt ein.

Hansa wirkt weiterhin hilflos, wenn sie selber Lösungen suchen müssen... aber wenn ihnen der Ball irgendwie vor die Füße fällt, machen sie den halt rein. Nur gegen Regensburg ging man nicht mit der ersten Chance auch direkt in Führung. Auf die Effizienz, die Hansa gerade an den Tag legt, wäre selbst Union Berlin neidisch...

Und auf ein Mal steht man 4 Punkte vor dem Relegationsrang und hat den Klassenerhalt selber in der Hand. Man ist auf keinen Fall schon durch, aber man hat sich innerhalb von 3 Wochen eine richtig gute Grundlage geschaffen. Ich ging ja vor 3 Wochen davon aus, dass man gegen Sandhausen unbedingt gewinnen MUSS, um überhaupt noch eine Chance zu haben. Jetzt trifft man an diesem Wochenende auf die und kann selbst bei einer Niederlage nicht auf den Relegationsrang abrutschen. Und das war wirklich nicht absehbar.

Aber genau so funktioniert der Abstiegskampf am Ende: Man braucht halt einen guten Lauf, in dem man sich eine ordentliche Grundlage verschafft. Und dann muss man hoffen, dass man drumherum im Eichhörnchen-Prinzip genügend Pünktchen sammelt, damit es reicht.

Also Stuttgart, Bochum, Schalke und Hoffenheim präsentierten sich zwischenzeitlich wie sichere Absteiger. Aber Bochum war zwischenzeitlich 5 Heimspiele infolge unbesiegt... und gewann 4 davon. Schalke hat gerade 3 von 4 Spielen gewonnen. Hoffenheim hat nur eines ihrer letzten 7 Spiele verloren. Stuttgart hat im April nur ein Ligaspiel verloren. Ich hab das ja schon am Montag ausgeführt.

Wenn man mal genau hinsieht, war Hansa nur in 2 Phasen der Saison wirklich zweitligatauglich: Vom 1. bis zum 5. Spieltag, als man Hamburg. St. Pauli und Bielefeld schlagen konnte und nur gegen die Aufstiegskandidaten aus Darmstadt und Heidenheim verlor. Und jetzt an den letzten 3 Spieltagen. Ansonsten blieb man nur am 9. und 10. Spieltag 2 Spiele in Folge ohne Niederlage. Man sammelte aber in den 8 Spielen 18 Punkte. In den restlichen 23 Spielen holte man dagegen nur 16 Punkte.

Das ist auch etwas, was man bei der Analyse der eigenen Situation bedenken sollte, wenn man sich auf eine Saison im Abstiegskampf "einstellt": Am Ende steigt man nicht an den 3 letzten Spieltagen ab, sondern weil man in den Wochen, in denen man wirklich mithalten konnte, zu wenige Punkte geholt hat. 

Nehmen wir da mal die Hertha, die ja die Mannschaft mit der schlechtesten Ausgangslage ist: Die hatten zwischenzeitlich auch eine Phase, in der sie zumindest in den Heimspielen richtig gut aussahen. Also für eine Mannschaft, die ums Überleben kämpft, sahen sie gut aus. In dieser Phase vom 20. bis zum 24. Spieltag holten sie aber trotzdem "nur" 7 Punkte, weil man gegen Mainz eine Führung herschenkte. Und so hat man, statt eine ordentliche Heimserie auszubauen, 8 Spiele in Folge nicht gewonnen und steht deswegen ganz unten. 

Aber wenn die Hertha Fans am Ende ihren Abstieg analysieren, wird niemand mit dem "Hätten wir das Momentum in dem Spiel gegen Mainz weiter ausgebaut" anfangen, obwohl das am Ende der entscheidende Moment gewesen sein könnte.

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