Das ist ja eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Also die Ansätze dieses Beitrages findet ihr bereits hier. Es wird jetzt nur noch weiter ausgeführt.
Einer der Lieblingsmythen der "Früher war alles besser" Generation sind ja die "deutschen Tugenden". Dieses "Wir waren nie individuell die Besten, aber unsere Mentalität hat uns immer geholfen!" Wir waren immer eine Turniermannschaft... auch wenn das nur ein Mal, bei der WM in Südkorea und Japan 2002 wirklich gestimmt hat. Also das war das einzige Turnier, bei den Deutschland wirklich ihre eigentlichen Möglichkeiten* übertroffen hat.
* Ok, genau genommen hat man "nur" Saudi Arabien, Kamerun, Paraguay, die USA und Südkorea geschlagen. Bei genauerem Hinsehen haben sie gegen den ersten richtigen Gegner verloren, auf den traf man aber erst im Finale... Hat man wirklich besser abgeschnitten als erwartet? Oder hatte man nur extremes Losglück? Alles nur ne Frage der Perspektive.
Nun muss hier erstmal ein Disclaimer rein: Ich nicht alt genug, um die 54er Generation zu bewerten. Das dürfte der einzige Titel sein, bei dem die "Mentalität schlägt Qualität" Geschichte wirklich wahr ist. Das ist aber auch Ewigkeiten her. Es hat sich aber als Gründungsmythos verfestigt, da bekommt man es nicht mehr raus.
Aber schon die 70er Generation... Fun Story: ich hatte letztens im Plattenladen die Neuauflage von Franz Beckenbauers Größten Hits in der Hand. Klar, das sind nur 2 Singles und 4 Songs... aber das sind auch 4 Songs mehr als die aktuelle Generation in der Diskografie hat...
Franz Beckenbauer war halt auch eine Stilikone. Und sie nannten ihn den "Kaiser", weil er auf dem Platz ein Kampfschwein war diese absolute Eleganz ausstrahlte.
Günther Netzer war ein linksgrünversifter Freigeist. Und ein Genie am Ball. Gerd Müller war der beste Abschlussspieler der Welt. Und nebenbei eine Mimose, denn nachdem er ein einziges Mal bei den Bayern ausgewechselt wurde, ist er sofort weggerannt. Das ist die Mentalität, die immer beschrien wird. Denn das war ja die beste und erfolgreichste Fußballergeneration aller Zeiten.
Die 80er wurden von Karl-Heinz Rummenigge geprägt. Einem Menschen, der so bescheiden ist, dass er hier quasi seine eigene Kategorie hat. Bernd Schuster nannten sie den "Blonden Engel", weil er... ähm... so ein Kampfschwein war? Oder er war so eitel, dass er zurückgetreten ist, als ihm nicht seine Wunschposition versprochen wurde. Europameister wurde er trotzdem. Oder genau deswegen.
Die 90er Generation, die ebenfalls Welt- und Europameister wurden, bestand aus Lothar Matthäus und Matthias Sammer gewannen im Jahr der Triumphe jeweils den Ballon d'Or... weil das individuell überragende Fußballer waren. Es waren natürlich auch die letzten Deutschen, die den gewinnen konnten. Während man 1972 noch die ersten 3 Plätze untereinander aufteilte.
Dazu kam ein Andy Möller, der, wenn er nicht gerade mit dem Adler auf der Brust auflief, als Heulsuse verschrien war. Und als Schwalbenkönig. Ein Thomas Hässler funktionierte am besten im Biotop Karlsruhe. Bei den "richtig großen Vereinen" wie Juventus oder Borussia Dortmund konnte er sich dagegen nicht durchsetzen. Beide waren aber auch überragende Techniker und sind Welt- und Europameister.
Jürgen Klinsmann wurde in England "Diver" genannt, was nur bedingt an seinem Torjubel lag, sondern primär am Vorwurf zu schnell zu fallen.
Die 2014er Generation wurde auch von Mesut Özil und Lukas Podolski geprägt. Özil hat so wenig mit "deutschen Tugenden" zu tun, dass er sich mittlerweile öffentlich als Türke geoutet hat. Wenn Poldi einen Funken dieser angeblichen Mentalität gehabt hätte, hätte er sich in München durchgesetzt, anstatt zurück nach Köln zu fliehen. Dasselbe gilt für den Siegtorschützen Mario Götze. Beides waren Spieler, die auf Vereinsebene nie die Widerstandskraft hatten, sich gegen echte Probleme durchzusetzen.
Und jetzt kommt ihr mit eurem "Ja, aber": Berti Vogts, Guido Buchwald, Dieter Eilts und Miroslav Klose. Ja, natürlich. Natürlich hatte Deutschland auch ihre Mentalitätsmonster, die über ihr eigentliches Talentlevel erfoglreich für Deutschland gespielt haben und damit ihren entscheidenden Anteil an den Titeln hatten. Da kann man in jeder Generation mehrere nennen. Selbstverständlich. Das stellt keiner infrage. Aber, schockierende Neuigkeit, das ist kein deutsches Phänomen.
Der "deutscheste" Spieler bei der WM 1994 war Carlos Dunga, und der führte die brasilianischen Künstler als Kapitän zum Titel. Frankreichs Goldene Generation hatte natürlich einen Zinedine Zidane. Aber es gab eben auch einen "General" mit Didier Deschamps, der im Mittelfeld alles souverän abräumte und dann den 5 Meter Pass auf eben jenen Zidane spielte. Oder einen Lilian Thuram, der sich vor jedem Spiel in Knoblauch einrieb und dann 90 Minuten am Gegenspieler hing. Man hatte mit Marcel Desailly einen Schrank in der Innenverteidigung. Thuram kommt nebenbei auf 2 Länderspieltore in 142 Einsätzen. Desailly auf 3 in 116. Die sind mehr Jürgen Kohler als unserer Jürgen Kohler... Man wurde mit den Mentalitätsmonstern, aber ohne Topstürmer 1998 Weltmeister. 2000 hatte man dann mit Henry und Trezuguet auch gute Stürmer.
2002 war es für die Brasilianer ein riesiger Schock, als man kurz vor dem Turnier Emerson ersetzen musste. Nicht, weil das ein überragender Techniker war, da hätte man Alternativen gehabt. Aber es war ihr Vorzeigearbeiter und genau deswegen ihr Kapitän. Diese Rolle übernahm dann Kléberson, ein grundsolider Aufräumer, der sich aber nie in Europa durchsetzen konnte. Die gesamte brasilianische Taktik lässt sich nebenbei auf ein "Wir stellen 6 Arbeiter auf, damit Ronaldinho, Rivaldo und Ronaldo zaubern können." Und nutzen Roberto Carlos als Wildcard. Und ja, auch ein Rekordhalter wie Cafu war immer eher ein Arbeiter als ein Künstler. Deswegen ist sein persönliches Highlightvideo auch keine 10 Minuten lang und besteht zur Hälfte aus Tacklings... Aber er konnte sein "gehobenes, aber nicht überragendes" Niveau aufgrund seiner herausragenden Einstellung über Jahrzehnte halten. Klingt schon sehr nach "Mentalität" für mich.
Italien hatte 2006 nicht nur Totti und del Piero, sondern auch Cannavaro und natürlich Grosso. Grosso war nie ein überragender Individualist, lief aber genau in diesem Sommer plötzlich richtig heiß und spielte das Turnier seines Lebens. Und natürlich wurde er vom Feingeist Andrea Pirlo perfekt freigespielt... Aber das wichtigste Tor erzielt eben einer der Arbeiter.
Die Spanier spielten ihre abgefuckte Version von Barcas Tiki Taka und verteidigten das eigene Tor mit dem Ball, bis der Gegner müde wurde. Dann erzielten sie irgendwann das 1:0 und wir feierten das alle als großartigen Offensivfußball. Warum auch immer. Vor allem hatten sie aber auch Charles Puyol und Sergio Ramos in der Innenverteidigung. Sergio Ramos hat es geschafft, in seiner Karriere 29 Mal vom Platz zu fliegen! NEUNUNDZWANZIG. Und das, obwohl er den Großteil seiner Spiele für Real Madrid absolviert hat, wo er im Schnitt 3 Zweikämpfe pro Spiel führen musste. Der nie auf sich oder den Gegner Rücksicht genommen.
Die "aktuelle" Generation der Franzosen hatte mit N'Golo Kante einen der besten Wasserträger aller Zeiten. Und mit Olivier Giroud den ultimativen "Arsenal-Angreifer", denn der Mann wurde Weltmeister, ohne ein einziges Mal AUFS TOR zu schießen. So aufopferungsvoll spielt nicht mal Miro Klose.
Ihr erkennt einen Trend? Alle Mannschaften, die bei den großen Turnieren große Erfolge eingefahren haben, hatten die perfekte Mischung aus Talent und Einstellung. Sie hatten einige Spieler, die individuell überragend waren und sich ihre Sonderrechte rausnehmen durfte. Diese wurden dann perfekt durch die Arbeitstiere ergänzt, die mit ihrer Einstellung den Künstlern den nötigen Freiraum schaffen. Das könnt ihr auf jede Mannschaft dieser Welt anwenden.
Was passiert, wenn diese Mischung nicht stimmt und man "nur Mentalität" zu bieten hat, konnte man bei den Europameisterschaften 2000 und 2004 sehen, wo es den Deutschen nicht an der nötigen Einstellung, sondern ausschließlich an der fußballerischen Qualität mangelt. Und wenn man nur auf "Qualität" setzt... also die amtierenden Weltmeister Frankreich, Italien, Spanien und Deutschland haben sich bei den Folgeturnieren blamiert. Das lag nicht an der individuellen Klasse. Es ist schon faszinierend, dass die Titelträger 4 Turniere infolge in der Gruppenphase ausgeschieden sind und erst Frankreich 2022 diesen "Fluch" beendete. Das hatte aber jeweils auch viel damit zu tun, dass man es sich in seinem Weltmeistersessel zu bequem gemacht hat und man die Grundtugenden vernachlässigt hat. Und man hat auch die schlechte Angewohnheit, zu lange an den Weltmeistern festzuhalten, auch wenn die mittlerweile nachgelassen habem. Aber auch das ist kein "rein Deutsche Tugend" sondern passiert überall.
Nichts an der deutschen Mentalität und dieser Nationalmannschaft ist irgendwie besonders. Wie alle anderen Nationen müssen sie die perfekte Mischung finden, um sich bei den großen Turnieren zu behaupten. Und wie alle anderen Nationen gehen sie nach einem Triumph durch ein Wellental, weil sie es verpassen, die alten Weltmeister rechtzeitig auszusortieren. Das war schon immer so und wird auch immer so bleiben.