Samstag, 29. Januar 2022

Das große Problem mit den Boykott Aufrufen

 Sie sind so willkürlich und selektiv.

Also klar, gerade ist es in ganz großer Mode, einen Boykott der Großveranstaltungen zu fordern. Eine WM in Qatar geht halt gar nicht, auch wenn viele Gründe dafür fragwürdig sind. Und Olympische Spiele in China sind auch nicht machbar. Obwohl wir 2008 damit noch kein Problem hatten. Sind die Zustände in China seit 2008 wirklich schlimmer geworden? Oder tun wir jetzt auf einmal so, als würde es uns interessieren?

Oh und wenn wir schon dabei sind: Warum interessieren wir uns für LBGTQ+ Rechte in Russland, aber was denen in Kamerun droht, ist uns komplett egal. Es gab praktisch keine Boykottaufrufe zum Africa Cup in diesem Land, obwohl die Lage dort auch weit weg von gut ist. Also natürlich haben die Spitzenteams der Premiere League versucht, die Abstellung ihrer Spieler zu verhindern oder hinauszuzögern. Aber dabei ging es ausschließlich darum, dass sie ihre eigenen Spieler nicht mitten in der Saison abstellen wollen. Was in Kamerun passiert, ist uns allen egal. Selbst die Nachricht, dass bei den Spielen eine Massenpanik ausgelöst wird, schafft es ja kaum auf Tagesschau.de. Wir zählen ja bei jeder Gelegenheit all die Toten bei den WM-Vorbereitungen in Qatar. Aber wenn während des Turniers Fans sterben, nehmen wir das mit einem Schulterzucken zur Kenntnis? Ich sag das mal so: Wer den Africa Cup in Kamerun unkritisch durchwinkt, darf sich hinterher nicht über die WM in Qatar aufregen...

Richard Lewis gibt uns hier einen epischen Rant über Sportswashing, der mehr oder weniger diesen Beitrag triggert. Richard Lewis ist ein Esports Journalist und muss sich gerade damit anfreunden, dass eine der größten Esports Organisationen vom selben Staatsfond gekauft wurde, der sich Newcaslte United gegönnt hat.

Das Problem ist halt nicht die WM in Qatar. Das Problem ist, dass es einfach kein sauberes Geld mehr gibt. Wenn man sich die Kolonialgeschichte beschäftigt, gab es dieses saubere Geld wahrscheinlich nie. Also nehmen wir es mal ganz praktisch: Ist ein Investor, der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion durch korrupte Geschäfte zu unfassbaren Reichtum kam, wirklich so viel schlimmer als ein Investor aus dem Nahen Osten, der durch Ölquellen an sein Geld kommt?

Oder anders ausgedrückt: Wir tippen auf unseren von chinesischen Kindern produzierten Smartphones die Boykott-Aufforderungen und teilen die dann auf Facebook, obwohl Meta mit ziemlicher Sicherheit auch ein Schweinekonzern ist. Oder, wenn wir uns das nicht trauen, wir nutzen Telegramm dafür, weil wir glauben, dass das sicherer ist, da nur der Russe mitliest und deren Sitz in Dubai liegt. Und ja, ich teile all das auf einen von Google gehosteten Blog, was auch nicht besser ist...

Mal ganz praktisch betrachtet: Kann ich mich über die WM in Qatar aufregen, während die Bayern das Geld von Qatar Airways akzeptieren und ihr Trainingslager nach dort verlegen? Und klar, ein einzelner Fan geht dagegen vor, aber er hat halt auch keinen wirklichen Rückhalt in der Szene. Er ist eher ein Don Quichote. 

Nebenbei versucht Unsere Kurve e.V. ein Werbeverbot für Wettanbieter durchzusetzen. Also dass Oliver Kahn sein Gesicht nicht mehr dafür hergeben soll, weil denen auffällt, dass wir uns eine Generation von Glücksspielsüchtigen heranziehen.

Das Problem ist halt: Wenn man auf all das dreckige Geld verzichtet, spielt man halt nicht mehr im Konzert der Großen mit. Das muss all denen, die derartiges fordern, bewusst sein. So gut die Bayern wirtschaften, sie brauchen dieses Geld, um nicht den Weg von Arsenal London zu gehen und demnächst nur noch in der Europa League um den Titel mitzuspielen. Und der Rest der Liga braucht das dreckige Geld, damit der Abstand zu den Bayern nicht noch größer wird und man wenigstens in der Europa League mitspielen kann. Und in England brauche ich das dreckige Geld, damit ich nicht aus der Premiere League absteige.

Wir wollen alle die tollen Fußballer in wunderschönen, hochmodernen Tempeln spielen sehen, aber das funktioniert halt nur mit dreckigem Geld. Es wird sich ja mittlerweile gerne über die koruppte Fifa aufgeregt. Aber dass genau diese Fifa mit ihrer WM Vergabe 2006 die Grundlage für den derzeitigen Erfolg der Bundesliga geschaffen hat, weil sie als riesiges Investionsprogramm in die Stadien funktionierte, ignorieren wir gerne. Unsere WM Bewerbung war ja als einzige sauber...

Ok, wenden wir uns vom Fußball ab, wenn der dieses Problem hat. Nur... alle anderen Sportarten haben diese Probleme doch auch. Also die NBA steckt so tief im Arsch der chinesischen Regierung, dass man eine Massenpanik bei denen auslöst, wenn man sich kritisch zur Lage in Hongkong äußert. LeBron James ist sonst einer der politisch aktivsten Sportler der Welt... aber wenn er was zu China sagen soll, hält er plötzlich doch das Maul und dribbelt einfach nur, was sich all die konservativen Amerikaner so sehr wünschen würden.

In der NFL ist es kein Problem einen neuen Job zu finden, während mehrere Vergewaltigungsvorwürfe gegen einen im Raum stehen, aber wenn man gegen Rassismus protestiert, fliegt man raus. Da hat ein Coach gerade seinen Job verloren, weil er sich bereits vor Jahren in EMails als Arschloch geoutet hat. Was auch nur bedeutet: Die Besitzer der einzelnen Franchises haben überhaupt kein Problem damit, homophobe und rassistische Menschen anzustellen, sie haben nur ein Problem damit, wenn es rauskommt.

Ok, dann halt allgemein kein Sport mehr. Also das Medium der Moderne: Computerspiele. Da sind zunächst mal Lootboxen eine der schlimmsten Ideen der Gegenwart. Wenn ich gegen Werbung für Wettanbieter bin, weil ich mir Sorgen mache, was das mit unseren Kindern und deren Umgang mit Glücksspiel anstellt, muss ich auch die großen Computerspiele boykottieren, weil die mittlerweile alle mit "Surprise Mechanics" kommen. Und wenn ihr euch Videos anguckt, wie Spieler ausflippen, weil sie Cristiano Ronaldo oder Lionel Messi aus einem einarmigen Banditen ziehen, versteht ihr, was ich meine. Und ja, es machen Leute Geld damit, in dem sie derartiges aufnehmen und teilen... 

Aber die systematische Konditionierung unserer Kinder zu Slot-Machine-Zombies ist vielleicht nicht mal das Schlimmste. Gefühlt jeder große Publisher hat Probleme mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. Die Summen, die die bezahlen, um das unter den Tisch zu kehren, sind der absolute Wahnsinn.  

Oh und das Geld... kommt ebenfalls von den Saudis. Oder in Riots Fall, die mit League of Legends den größten Esports betreiben, von der chinesischen Regierung. Obwohl Tencent so erfolgreich ist, dass sie Geld an die chinesische Regierung spenden dürfen

Dann halt kein Sport und keine Computerspiele, sondern Musik. Werfen wir Spotify an, obwohl die die Künstler grausam bezahlen und wissentlich Fakenews zur Covid Lage verbreiten lassen. Das wird ihnen zumindest von Künstlerseite vorgeworfen... (Edit: Ich habe diesen Beitrag bereits am Samstag angefangen, es sieht so aus, als würde Spotify zumindest da reagieren... Wenn sie jetzt noch dafür sorgen, dass die Künstler auch angemessenes Geld verdienen und das nicht alles bei ihnen landet...) Dazu haben Künstler, die auf große Welttournee gehen, einen absolut katastrophalen Klimaabdruck, weil sie ja nicht nur ihr Ensemble, sondern auch ihr aufwendigeg Bühnenbild durch die Welt kutschieren. Da bleibt einem wohl nur der Plattenladen um die Ecke. Verdammt, Schallplatten werden auch aus Erdöl hergestellt... Oh und Diktatoren hatten auch immer die Angewohnheit, sich Superstars nach Hause einzuladen, was denen dann im Nachhinein peinlich ist...

Na gut, dann lehnen wir uns zurück und gucken einen Film. Das ist schließlich die Branche, die das #metoo in Bewegung gesetzt haben, weil ihr Umgang mit den Mitarbeiterinnen so vorbildlich ist. Und Disney hat sich ja nur bei China für die Zusammenarbeit bei Mulan bedankt... Also explizit bei den Leuten, die da Konzentrationslager betreiben. Oh und ratet mal wer 500 Millionen in Disney investiert hat? Genau dieselben Saudis, die sich Newcastle United gegönnt haben... 

Es gibt das lustige "Wikipedia Spiel", in dem man von jedem Artikel in 3 Klicks zu Adolf Hitler kam. Mittlerweile kommt man immer innerhalb von 3 Klicks zu den Chinesen oder Saudis, weil die halt überall mit drinstecken. Das ergibt ja auch Sinn: Noch können die Saudis ihren Wohlstand auf dem Öl. Allerdings dürfte ihnen im Gegensatz zu uns bewusst sein, dass dieses Öl ein fossiler Brennstoff ist und dass sie nicht ewig auf ihm sitzen bleiben können. Also investieren sie jetzt, wo sie noch endlosen Reichtum haben, um dann später, wenn sie sich nicht mehr aufs Öl verlassen können, überall vernetzt zu sein. Und nebenbei ist das alles auch eine wunderbare Imagekampagne.

Jetzt müssen wir die Saudis machen lassen, weil wir ihr Öl brauchen. In 50 Jahren müssen wir die Saudis machen lassen, weil sie überall mit drin hängen. Mittlerweile reißen sie sich halt auch unsere Lieblingsspielzeuge unter den Nagel. Aber genau genommen können wir seit 50 Jahren kein Auto ohne deren Hilfe betreiben. Dennoch schaffen wir es nicht mal, ein Tempolimit auf den Autobahnen durchzusetzen, weil mit unseren tollen Volkswagen durch die Gegend rasen doch wichtiger ist. Jede Verkehrswende scheitert an der Bequemlichkeit. In Deutschland protestiert man meist erfolgreich gegen den Ausbau von Windenergie, weil man die zwar haben will, aber doch bitte nicht im eigenen Wald... Und dann ist man überrascht, wenn man an der Pipeline fragwürdiger Gestalten hängt. Aber wenn die Ölscheiche dann mit dem Geld, welches wir ihnen bereitwillig und ohne schlechtes Gewissen in den Arsch gesteckt haben, eine WM austragen wollen, hört der Spaß auf?

Um dann mal eine wirklich abstruse These in den Raum zu werfen: Unser Lebenswandel fällt uns halt jetzt auf die Füße. Also einerseits, weil die Flüchtlinge als Folge des Klimawandels vor unserer Tür stehen. Das wird ja auch eher schlimmer als besser werden. Auf der anderen Seite haben wir direkt neben diesem Chaos und Elend einige wenige, die dank unserer Lebensweise zu den reichsten Dynastien der Menschheitsgeschichte aufgestiegen sind, weil uns Moral und Anstand in den letzten 100 Jahren vollkommen egal waren. Und eine WM in Qatar ist halt auch nur die schmerzhafte, aber logische Konsequenz dieses Lebenswandels. Damit wollen wir aber nicht konfrontiert werden, also boykottieren wir eher das im großen irrelevante Symptom, anstatt über das Problem an sich zu reden.

Ganz zynisch betrachtet sollten wir das ganze optimistisch sehen: Jeder Dollar, den die Saudis oder Qatar in eine Weltmeisterschaft oder einen Fußballverein stecken, landet nicht in den Taschen von Terroristen und kann damit die Lage in den Nachbarländern nicht destabilisieren. 

Nebenbei verdient Deutschland ja an dem Elend der Regionen. Also die Rüstungsexporte haben einen neuen Höchsstand erreicht. Die Deutsche Bank feiert mitten in der Pandemie neue Rekordgewinne. Die Superreichen verdienen auch im Westen am Elend der Gemeinheit.

Wenn man diesen Zustand boykottieren will, kann man sich eigentlich nur noch in seinem Zimmer einschließen und gutes deutsches Bier von der Lokalmarke herunterwürgen. Wobei... meine Lokalmarke "Sternburg" gehört auch schon zur Radeberger Gruppe... würg.

Würglich albern wird es jetzt, wenn man die Athleten zu einem Boykott auffordert. Ihr könnt euch doch nicht zur Marionette von diesen Arschlöchern machen, denen wir diese Möglichkeiten gegeben haben. Das wäre doch unverantwortlich! Macht da nicht mit! Bleibt zu Hause! Das funktioniert nur, wenn man an Sporter höhere moralische Maßstäbe ansetzt, als an sich selbst.

Diese Athleten arbeiten praktisch ihr ganzes Leben und gezielt 4 Jahre lang auf ein Event wie die Olympischen Spiele hin. Sie geben dafür ihre Kindheit auf. Ertragen im Zweifelsfall sexuelle Misshandlungen, die es sonst nur in der katholischen Kirche geben würde. Und die sollen jetzt auf die Erfüllung ihres Lebenstraumes verzichten, weil wir mit unserer Lebensweise ein ungerechtes und ungesundes System erschaffen haben, welches jetzt auf uns zurückkommt? Die sollen ihren Reichtum gefährden, während wir weiterhin die Billigprodukte aus China kaufen? Während wir nicht mal im Ansatz gewillt sind unsere Lebensweise zu ändern?

Und wenn dann dieses Event in 4 Jahren von einem nicht ganz so offensichtlichen Schweinestaat veranstaltet wird, dürfen sie wieder teilnehmen und wir jubeln ihnen zu?

Am Ende soll das nicht bedeuten, dass diese Debatten über die Zustände in der Welt sinnlos sind. Und wenn man mit Boykott Aufrufen diese Debatten in Gang setzt, hat man vielleicht doch was erreicht. Man sollte sich aber bewusst sein, dass man hier über ein globales Problem und ein krankes System redet, welches man nicht durch den Boykott eines einzelnen Sportevents verbessert, diskutiert.

Aber der Sport ist am Ende auch nur ein Abbild unserer Gesellschaft. Die Zustände bei der Fifa sind nicht besser oder schlechter als sonst überall. Es fällt uns bei der Fifa nur etwas schwerer wegzuschauen.

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