Freitag, 9. August 2024

Olympia vs Herrenfußball: Teil 2: Druck und Charakter...

Das olympische Turnier offenbart halt 2 Lügen, die wir Fußballfans seit Jahrzehnten einreden: 1.) Das sind doch nur Emotionen und zeigt Charakter. Ich frage mich ja eher, was es über deinen Charakter aussagt, wenn du dich bei jeder Kleinigkeit beim Schiedsrichter beschwerst. Und Emotionen zeigen Marta und Lohmann bei den gestern erwähnten Beispielen auch. Lohmann flucht aber ins Leere, anstatt die Schiedsrichterin anzugeifern. Und Marta weint sich an der Schulter ihrer Mitspielerin aus.

Die 2. Lüge ist ja dieses "Der Druck ist halt viel zu hoch, das muss raus!" Fußballer haben doch so ein entspanntes Leben. Im Großen, wie im Kleinen. Sie haben 90 Minuten Zeit, um einen frühen Fehler auszugleichen. Sie haben alle 2 Jahre ein großes Turnier im Kalender. Und ja, Julian Nagelsmanns "dass man 2 Jahre warten muss" klingt herzzerreißend. Aber die DaNas werden nach ihrem aus für 4 Jahre in der Versenkung verschwinden, bevor wir in Los Angeles wieder einschalten.

Dabei ist es ja auch "nur" die Nationalmannschaft, die 2 Jahre lang in den Ruhemodus schaltet. Die Spieler bekommen in den Vereinen direkt die nächste Gelegenheit zum Jammern und Meckern. Wenn sie jetzt wirklich nur bei den Nationalmannschaftsturnieren und dem Champions League Finale zum Schiedsrichter rennen würden, könnte man eine außerordentliche Drucksituation als Argument bringen. Aber sie machen es auch bei jedem verdammten Bundesligaspiel.

Und um die 90 Minuten Spielzeit in Relationen zu setzen, betritt Nera Tiebwa die Matte. Ihr olympischer Wettkampf dauerte 5 Sekunden. Die ist dafür 14.0000 Kilometer angereist. Nun ist das de facto eine wunderschöne Episode, weil die 15-Jährige durch die Teilnahme ihren olympischen Traum gelebt hat. Es geht hier mehr um das Prinzip, mit dem sich Daria Bilodid übers gesamte Turnier auseinandersetzen musste: Im Judo kann eine einzige Aktion sofort den Kampf beenden. Und es gibt keine 2. Chance. Wenn du einen Kampf verlierst, bist du raus. Du trainierst 4 Jahre lang für dieses eine Turnier und nach einem einzigen Fehler kann sofort alles vorbei sein. Fußballer haben gar keine Ahnung, was Druck ist.

Dazu werden sie ja auch Schritt für Schritt an diesen Druck gewöhnt. Denn schon in Jugendmannschaften ist die Aufmerksamkeit ja mittlerweile so hoch, dass kaum noch jemand spontan bei einer WM auf die große Bühne tritt. Die wissen alle, was auf sie zukommt und können sich auch entsprechende Expert*innen leisten, die sie durch mental schwierige Situation kommen. Nicht, dass das einfach ist. Aber vergleicht das mal mit dem, was Imane Khelif durchmachen musste. Diese junge Frau betreibt als Algerierin mit dem Frauenboxen eine Nischensportart. Niemand interessierte sich für sie oder für ihre Wettkämpfe. Bis auf einmal aus dem Nichts das Gerücht aufkam, dass sie eine Transfrau sein soll. ALS ALGERIERIN. Einem Land, dass dich gerade auf seine konservativen Werte besinnt.
Anscheinend hat der ebenfalls eher korrupte Box-Verband festgestellt, dass sie einen erhöhten Testosteronwert hat. Dadurch wurde sie zur Zielscheibe des konservativen Mobs, der ja glaubt, dass der nur 2 Geschlechter gibt, die bei Geburt festgestellt werden. Was nebenbei völlig absurd ist, denn Khelif wurde ja als Frau geboren.

Nur um mal festzuhalten, wie absurd diese Position: Einerseits darf Khelif laut Arschlöchern wie J.K. Rowling nicht an Frauenwettbewerben teilnehmen, weil sie einen zu hohen Testosteronwert hat. Andererseits dürfte eine Khelif als Privatperson, falls sie das will, nicht auf diesen zu hohen Testosteronwert reagieren, indem sie eine Geschlechtsumwandlung durchführen lässt. Sie ist also gleichzeitige eine Frau und keine Frau, obwohl es das nach deren Weltbild gar nicht geben kann.

Und weil das noch nicht genug war, zeigten die Araber ihren Antisemitismus und schoben die Schuld den Juden in die Schuhe. So wurde sie zur Symbolfigur des Palästina-Konflikts, obwohl sie damit eigentlich so gar nichts zu tun hat. All das bricht völlig unvorbereitet über Khelif herein. Und unter diesen Voraussetzungen muss sie sich jetzt auf den wichtigsten Kampf ihrer Karriere vorbereiten, der heute Abend steigt. 

Ich empfehle an der Stelle nebenbei das ARD-Interview mit Caster Semanya. Da geht es auch darum, was diese ganze Debatte bei jungen Frauen auslösen kann. Da landet man ganz schnell bei Selbstmordgedanken.

Und ihr wollt euch einreden, dass Fußballer extreme Drucksituationen kennen? Ernsthaft?

Wir als Fußballfans müssen uns einfach eingestehen, dass unsere Idole zu verzogenen Gören geworden sind. Das sind immer noch Kleinkinder, die im Supermarkt anfangen, laut zu weinen, wenn Mutti ihnen keine Schokolade kauft. Wir haben diese Stars aber auf ein derart hohes Podest gestellt, dass wir uns einreden, dass diese ganz klaren Defizite ja notwendig und etwas Gutes sind. Emotionen und Charakter halt. Und beides kann man ja nur so ausleben und zeigen.

Die Olympischen Spiele zeigen uns jetzt, wie dumm das von uns und für uns war. Dass ein auch für den Zuschauer wesentlich angenehmerer Sport möglich wäre, wenn man den Athleten nicht einfach alles verzeiht, sondern sie sofort in die Schranken weist, wenn sie unangenehm auffällt.

Die neue Regel ist ein wichtiger Schritt dahin. Genauso wichtig ist es aber, dass alle anderen die Spieler darauf hinweisen, dass sie diese Regel für wichtig halten. Dass sie nicht jammern, wenn ihre Helden plötzlich gesperrt fehlen, weil sie sich 4 völlig überflüssige Gelbe Karten fürs Diskutieren abgeholt haben. Dass die Journalisten den Spielern kontra geben, wenn die Trainer sich beschweren wollen, dass diese Regel ja sinnlos sein soll. Man kann dann auch gerne erwähnen, dass es ganz schön erbärmlich ist, dass wir diese Regel brauchen, aber dass liegt ja nicht an der Fifa oder den Schiedsrichtern. Und wenn das alles nicht passiert, sollte man einfach zum Hockey gehen... Als ob das passieren würde.

In 4 Jahren werden wir dann wieder überrascht feststellen, dass es eigentlich viel angenehmer und sympathischer wäre, sich eine andere Sportart auszusuchen. Suprised Pikachu Face. Aber dann wird die Olympiaübertragung für die Zusammenfassung eines Zweitligaspiels unterbrochen und wir sind doch wieder gefangen im Bann des Königs...

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen