Dienstag, 23. November 2021

Passives Abseits vs Tradition Teil 10: Warum ist Rostock gegen Aue ein Derby?

 Passt das in diese Serie? Irgendwie schon, denn am Ende wird es wieder viel um Tradition gehen. Aber es wird auch unnötig politisch. Seid also gewarnt.

Eines der für mich irgendwie nervigsten Narrative dieses Wochenende war ja, dass Hansa Rostock gegen Erzgebirge Aue ein Derby sein soll. Also das wurde vor dem Anpfiff vom Trainer so propagiert. Es wurde vom Sky Kommentator befeuert und auch in die Nachberichterstattung schaffte es dieser Begriff. Alle verwendeten diesen Begriff vollkommen selbstverständlich und ich frage mich nur: warum?

Dafür müssen wir natürlich erstmal klären, was ein Derby ausmacht. Und dann können wir gucken, ob und wie weit man das auf Duelle wie dieses anwenden kann.

Das erste wichtige bei einem Derby ist natürlich die örtliche Nähe. Das sagt sich so einfach, weil es an sich mega offensichtlich ist, aber warum ist diese örtliche Nähe eigentlich so wichtig?
Ganz klar: Weil es vor dem Spiel haufenweise Berührungspunkte gibt. Also gehen wir mal davon aus, dass man in einem Dorf zwischen Hannover und Wolfsburg wohnt. Wir nennen dieses Dorf spaßeshalber Braunschweig. Dann geht man in diesem Dorf arbeiten und spielt selber in einem niederklassigen Verein. (Nennen wir ihn spaßeshalber Eintracht...) Dann liegt schon am Montag vor dem Spiel im Büro diese Spannung in der Luft. Beim Donnerstagstraining trägt jeder das Trikot seiner Mannschaft und die Trainingsintensität wird künstlich hochgefahren. Oder man ist so schlecht, dass man demonstrativ das Trikot des Konkurrenten anzieht, um den lächerlich zu machen. Helden der Kreisklasse...
Und wenn das Derby dann gewonnen wird, kann man die Kollegen die nächste Woche im Büro und auf dem Platz aufziehen. Da kommt doch am Ende die Spannung her.

Was bei der örtlichen Nähe auch immer wichtig ist: Man trifft auch sportlich regelmäßig aufeinander. Also schon in den Jugendjahren wird ja die Rivalität zwischen Schalke und Dortmund gepflegt, weil die schon in der F-Jugend gegeneinander antreten. Mindestens 2 Mal im Jahr. Wenn man dann als Jugendspieler in die erste Herrenmannschaft aufsteigt, hat man dann natürlich ein anderes Verhältnis zu diesem Gegner. Also als Schalker, als Dortmunder Jugendspieler wird man dann ja verliehen und durch einen Engländer ersetzt.

Zwischen Rostock und Aue liegen 513 km. Hannover ist nur 335 km entfernt. Ich habe ja die ersten 20 Jahre meines Lebens in Rostock verbracht, dort aber keinen einzigen Aue-Fan gekannt. Gut, seit dem lebe ich in Leipzig und kenne trotzdem noch keinen Aue-Fan. Lustigerweise habe ich in Rostock mit einem Hannover Fan und in Leipzig mit einem Zwickau-Fan zusammen Fußball gespielt. Aber Aue Fans existierten einfach nicht. Dieser Verein war mir praktisch vollkommen egal.
Was natürlich so nicht ganz richtig ist, ich hab die mal als "Drecksverein" beschimpft, weil die Vereinsführung echt furchtbar ist.


Das zweite wichtige ist "eine gemeinsame Geschichte". Dabei ist nicht nur, aber auch, wichtig, dass man gegeneinander gespielt hat, sondern dass man wirklich wichtige Spiele gegeneinander ausgetragen hat. Und dass Gerald Asamoah dabei war... Also ganz praktisch gesehen ist Bayern München gegen Borussia Dortmund ja ein Derby. Das liegt einerseits daran, dass gerade die Bayern so groß sind, dass sie überall Fans haben. Da bekommt örtliche Nähe eine vollkommen neue Bedeutung. Wo wir schon bei wahllosen Randanekdoten sind: Ich habe auf dem Dorf in Amerika einen Bayern-Fan getroffen. Also im Gegensatz zu Aue Fans gibt es die echt überall...
Aber vor allem gab es in den letzten 15 Jahren so verdammt viele bedeutungsvolle Spiele. Die haben unzählige offizielle und inoffizielle Finale gespielt. Die Bayern haben immer in genau diesen Spielen die Titeltträume der Borussen zerstört. Außer das eine Mal, wo es eine richtige Klatsche für den Rekordallesgewinner gab. Selbst in einem Champions League Finale stand man sich während dieser Zeit gegenüber. All diese Vorgeschichten werden vor jedem Spiel wieder ausgepackt. All das wirkt auch auf die aktuellen Duelle.

Rostock gegen Aue... klar, hat es in der DDR regelmäßig gegeben. Also 62 mal. Es gab sogar ein 0:0 auf neutralen Boden. Die hießen damals noch BSG Wismut Aue und in der Regel war es das Duell zweier Mittelfeldmannschaften. Und ja, vielleicht erinnert sich der eine oder andere Fan aus Aue noch an das 3:2 im letzten Aufeinandertreffen. Also Aue stieg damals ab, obwohl man die letzten 2 Spiele gewinnen konnte. Weil Stahl Eisenhüttenstadt am letzten Spieltag seinen 2. Saisonsieg (bei 14 Unentschieden) holte. Das war für die Auer bestimmt grausam, aber ein "Wir haben euch damals beim vorletzten Oberligaspiel geschlagen, war aber egal." macht aus so einer Ansetzung noch kein Derby.

Und seit dem... Also in den letzten 30 Jahren traf man 7-mal aufeinander. Hansa verliert meistens. Also die Bilanz ist jetzt noch schlechter als damals in der Oberliga. Dass man als Hansa aber inzwischen halbwegs regelmäßig auf Aue trifft, erinnert einen nur schmerzlich daran, wie sehr man dort die letzten 10 Jahre verkackt hat. Denn nach der Wiedervereinigung spielt man Jahrzehntelang praktisch in einer anderen Liga. Aber das ist ja kein Alleinstellungsmerkmal für die Auer, dass kann jeder etablierte Drittligist genau so von sich behaupten. Egal von wo er herkommt.

Nur um das nochmal zu verdeutlichen: Seit der Wiedervereinigung hat Hansa 16 Pflichtspiele gegen Hannover absolviert. Man kommt auf 19 Spiele gegen den 1. FC Nürnberg. Der Rekordhalter dürfte der 1. FC Kaiserslautern mit 35 Pflichtspielen sein. Warte, was? "Wir" haben im Supercup gegen "die" gespielt? Wow.
Aber gerade Kaiserslautern war halt die Mannschaft, die sich praktisch immer auf Augenhöhe mit Hansa entwickelt hat. Also wenn die einen abgestiegen sind, zogen die anderen solidarisch nach. Und wenn die einen im Supercup spielten, wurden die anderen auch eingeladen. Irgendeinen Grund hat man dafür schon gefunden. Selbst im DFB-Pokal wurde diese Partie 2-mal ausgelost. Letzter absurder Fun Fact: Das letzte Hansa-Spiel, welches ich im Stadion gesehen habe, war ein 4:1 gegen Kaiserslautern...

Trotzdem würde keiner auf die Idee kommen, die 36. Ansetzung zu einem Derby zu erklären. Selbst dann nicht, wenn es in der Relegation anstehen sollte und dann der eine Verein dem anderen die schmerzlichste Niederlage der Saison zufügt. 

Aber nur, weil man vor 30 Jahren in der selben Liga regelmäßig gegeneinander angetreten ist, wird man nicht automatisch ein Derby. Nehmen wir einfach mal den "Bundesligaklassiker" Karlsruher SC gegen Fortuna Düsseldorf. Das steht demnächst zum 50. Mal an. Die sind früher auch in relativer Regelmäßigkeit in der Bundesliga aufeinander getroffen. Das letzte Mal 1997. Und klar, dass das 2 ehemalige Bundesligisten sind, wird regelmäßig erwähnt. Trotzdem käme niemand auf die Idee daraus ein Derby zu machen...


Warum ist das trotzdem ein Derby, obwohl es eigentlich keins sein sollte? Die Antwort ist so einfach wie schmerzlich: Weil wir die Wiedervereinigung verkackt haben. Eigentlich sollte sich die aktuelle U40 Generation in Rostock als Norddeutsche fühlen und die Feindschaft zu den bösen Linken aus St. Pauli pflegen. Da könnte man echt mal den ersten Sieg seit 2009 einfahren... Man sollte eigentlich seine erfolgreichere Geschichte nach der Wiedervereinigung in der Vordergrund stellen, denn man war ja nach der Wender erfolgreicher als vorher. Der eigentlich Vereinsmythos basiert auf den Jahren nach der Wende.

Also wie das funktionieren kann, zeigt ja ganz praktisch Union Berlin. Die sind jetzt erfolgreicher als sie es "zu Zonenzeiten" jemals waren. Sie sind das nicht, weil sie ein ehemaliger Ostverein sind, sondern weil sie ein Berliner Verein sind. Deswegen sind sie, was natürlich Teil des Problems ist, in einem von 2 Wachstumsmärkten in Ostdeutschland. Und in dem einen Markt, der auch einfach groß genug um 2 Bundesligisten zu verkraften. Deswegen hatte Quattrex German Opportunities ein Auge auf den Verein geworfen. Und Michael Kölmel den Verein ursprünglich mal gerettet. Was alles kein Vorwurf an den Verein sein soll, die arbeiten ja auch sehr gut mit ihrem Geld. Aber mich würde es aufgrund der Kombination von Investoren und Kompetenz nicht überraschen, wenn sie dauerhaft vor der Hertha bleiben. Aber denen werden die "Ost-Derbys" dann endgültig egal sein, denn dann sind sie ein Berliner Bundesligist mit eigenem Stadtderby.

Hansa Rostock hat halt eine gegenteilige Entwicklung genommen. Also in den 15 Jahren nach der Wiedervereinigung waren einen die Ostderbys fast egal, weil man sie halt auch kaum ausgetragen hat. Die Highlights des Jahres waren die Duelle mit den Bayern, die man eingangs sogar noch regelmäßig besiegt hat. Ernsthaft, die erste Niederlage gegen die Bayern gab es im 5. Spiel! Ich behaupte mal ganz dreist, dass die Bayern gegen keinen anderen Bundesligisten so lange auf einen Sieg warten mussten.

In den 10 Jahren im Dauereinsatz als Bundesligist zwischen 1995 und 2005 spielte man insgesamt 6 "Ostderbys". In den 3 Jahren, als Energie Cottbus überraschend in der Bundesliga spielte. Das war eigentlich auch genügend Zeit um sich seine eine eigene, neue Identität aufzubauen. Man war damals auch echt auf einem guten Weg. Einerseits hatte man eines dieser 5 Sterne Nachwuchsleistungszentren, worauf man damals auch echt stolz war: Man war der Anlaufpunkt für alle Talente aus Norddeutschland. Man feiert sich bis heute auf der Homepage für ein "Internat, das zur Jahrtausendwende für viele Bundesliga-Internate in Deutschland zum Vorbild wurde." Und ja, dass Toni Kroos der einzige Weltstar war, der jemals auf dem Internat war, wurde am Ende zum Problem. Vor allem, weil Kroos ja so schnell wie möglich weg ist. Man hat realistisch gesehen halt doch nur Zweitligaspieler ausgebildet... Und die Legende Kevin Pannewitz.
Oh und fast hätte ich es vergessen: Materia kommt auch aus der Hansa-Jugend... Das bedeutet einerseits, dass man mehr Rapstars als Nationalspieler wirklich ausgebildet hat. Andererseits bedeutet es auch, dass man alles richtig gemacht hat, schließlich hat man Materia ausgebildet.

Man war ein hervorragender Aus- und Weiterbildungsverein, bei denen Stefan Beinlich, Olivier Neuville, René Schneider und Co ihre ersten Schritte in der Bundesliga gehen konnten, bevor sie dann zu Vize-Meistern wurden. Von dem Verkauf dieser Spieler konnte man, auch wenn 5 Millionen Ablöse heutzutage lächerlich wirken, gut leben, man musste halt nur den nächsten guten und günstigen Spieler finden. Solange dieser Spieler nicht Rade Prica war, lief das auch sehr gut. Apropos Prica.

Dazu war man der einzige Bundesligst aus Süd-Schweden. Man hatte so viele Skandinavier verpflichtet, dass am Samstag die Fans aus Nordeuropa in Büssen am Einkaufszentrum abgeladen wurden, um erstmal Alkohol zu kaufen, sich dann Hansa im Stadion anzusehen und hinterher wieder heimzufahren. Und ja, da ging es auch um den günstigen Alkohol... aber halt auch um den Fußball im Stadion. Das war alles wunderbar und das funktionierte als Norddeutscher Fußballverein. Zumindest war man auf einem guten Weg zu einer eigenen Identität. Und Duelle mit Aue oder Halle haben halt niemanden interessiert.

Jetzt hat man im letzten Jahr als Drittligist 8 "Ostderbys" gespielt. Also mehr als in den 10 Jahren als Bundesligist insgesamt. Und da man ja so nen paar Jahre in der dritten Liga zugebracht hat, waren 8-10 Duelle praktisch der Standard, denn es spielen halt verdammt viele ehemalige Oberligisten in der dritten Liga. Was nebenbei auch völlig normal ist. Also um das mal zu verdeutlichen: Es spielen dieses Jahr 3 ehemalige DDR Oberligisten (Magdeburg, Halle und Zwickau) und 6 ehemalige Bundesligisten (Braunschweig, Kaiserslautern, Mannheim, Saarbrücken, 1860 München und Duisburg) in der dritten Liga. Wenn Rostock, Dresden und Cottbus noch teilnehmen würden, wären es sogar 3 Mannschaften, die beides sind... Es ist also nicht zwingend ein Ost-Problem, dass so viele ehemalige "Spitzenmannschaften" in die 3. Liga abgestürzt sind, sondern ein ganz normaler Vorgang: Schlecht geführte Vereine steigen dorthin ab.

Was aber ein Problem ist, ist diese "Geil, Ost-Derby, wie in der guten, alten Zeit" Mentalität. Also zumindest als Rostocker. Als Hallenser ist es was anderes, die sind ja so weit aufgestiegen, dass sie wieder Derbys haben. Aber als Rostocker war es "die gute Zeit", als man sich mit den Bayern messen durfte. Da müsste es eigentlich eine "Wie konnte es dazu kommen, das wir uns wieder mit DENEN messen lassen müssen, die hatten wir doch so weit hinter uns gelassen?" Haltung kommen. Stattdessen freut man sich auf diese Duelle. Verklärt sie zu irgendetwas ganz tollem und historischen. Obwohl es unseren Eltern komplett egal war, wie das Spiel gegen Aue ausging.

Wir müssten mal irgendwann dahin kommen, dass die Sachsen-Derbys Sachsen-Derbys sind. Die gibt es ja durchaus. Und das Rostock sich bei den Nordderbys einreiht, wo sie eigentlich hingehören. Und klar, für Rostock ist das auf ein Mal ein Problem, weil man halt wirklich sehr isoliert auf der Landkarte liegt: Der nächste Konkurrent ist 200 km entfernt. Göteburg liegt halt dichter als Aue. Aber da müssen wir als Gesellschaft irgendwan mal hinkommen. Und es wäre schön gewesen, wenn der Fußball da seinen Beitrag zu geleistet hätte. Gerade erreicht er aber eher das Gegenteil.

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